Michael Strasser wurde am Mittwoch bei der Sporthilfe-Gala als "Sportler mit Herz" ausgezeichnet.

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Strasser mit Freundin Kerstin nach "Ice 2 Ice" bei seiner Ankunft in Wien.

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Unterwegs von Alaska über ...

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... 22.642 Kilometer und ...

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... 168.000 Höhenmeter ...

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... nach Patagonien.

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In nur 84 Tagen, elf Stunden und 50 Minuten hat Extremradfahrer Michael Strasser die 22.642 Kilometer von der Nordküste Alaskas bis in den Süden Argentiniens zurückgelegt und damit den Rekord des Schotten Dean Stott um rund 15 Tage gedrückt. Am Mittwoch wurde der 35-jährige Niederösterreicher bei der Sporthilfegala als "Sportler mit Herz" ausgezeichnet. Auf seiner qualvollen Reise sammelte er mit der Aktion "Racing 4 Charity" Spenden für an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) oder Myalgische Enzephalomyelitis erkrankte Personen.

Der Langstreckenspezialist mit "leicht masochistischen Zügen" will als UN-Mountainhero Menschen dazu bewegen, vermehrt auf das Auto zu verzichten und auf das Rad umzusatteln. Im Interview gewährt er Einblicke in seine auszehrende Tour, erklärt, warum das Aufgeben nie ein Thema für ihn ist, warum er in Peru beinahe mental gebrochen wäre, wie er sich manchmal selbst überlistet und welche unangenehmen Begleiterscheinungen ihm bei seiner Afrika-Durchquerung 2016 zu schaffen machten.

STANDARD: Wie ist das Befinden rund zwei Wochen nach der strapaziösen Erledigung des Projekts "Ice 2 Ice"?

Michael Strasser: Ich habe keine nennenswerten Schmerzen. Die normalen Wehwehchen, die man so hat, aber keine bleibenden Schäden. Die paar Entzündungen werden in ein paar Wochen komplett ausgeheilt sein. Ich habe mehr mit dem Mentalen, mit Ausgebranntsein zu kämpfen, bin mehr auf die mentale Leistung stolz als auf die körperliche. Der Unterschied ist wohl, dass ich nicht leistungsfähiger bin als andere ambitionierte Radfahrer, sondern dass ich mich 85 Tage quälen kann.

STANDARD: Sie haben über 168.000 Höhenmeter bewältigt, das entspricht in etwa 120-mal auf den Großglockner. Wie bereitet man sich darauf vor?

Strasser: Ich sitze schon zwölf Jahre am Rad, habe auch davor schon viele Jahre Sport betrieben, und abgesehen von ein, zwei Wochen, in denen ich krank war, gab es wenige Tage, an denen ich nicht trainiert habe.

STANDARD: Wie groß ist das Trainingspensum?

Strasser: Das ist sehr unterschiedlich, ich trainiere viel Kraft, gehe viel laufen, weil mir beides fürs Radfahren viel bringt. Für ein derartiges Projekt braucht man viel Körperstabilität. Da geht's nicht nur darum, die stärksten Wadeln zu haben, sondern auch darum, ob man nach fünf Wochen den Kopf noch halten kann. Ich laufe 40 bis 50 Kilometer die Woche, mache aber auch Blöcke mit 100 Kilometern in zwei Tagen. Ich bin im Training ein Verfechter der Zerstörungstheorie, versuche zum Beispiel mit Freunden 9.000 Höhenmeter mit Tourenskiern zu gehen. Zehnmal Stuhleck rauf und runter. In 24 Stunden kommt man sich selbst schon sehr nahe. Für die Muskulatur ist Skitourengehen ähnlich wie Radfahren, und man kann die Intensität gut steuern, von gemütlich bis weit hinauf in Bereiche, die man beim Radfahren gar nicht erreicht.

STANDARD: Wie viele Kilometer spulen Sie beim täglichen Training mit dem Rad ab?

Strasser: Unterschiedlich. Ich will gar nicht wissen, wie viele Male ich schon auf den Kahlenberg gefahren bin. Die Eiserne Hand beim Kahlenbergdörfl ist mein Trainingsberg. Mit zehnmal rauf und runter habe ich aber nicht viele Kilometer geschafft. Ein anderes Mal aber fahre ich mit dem Rad zu einem Vortrag, zum Beispiel nach Linz, das sind dann auf einer schönen Strecke 220 Kilometer. Ansonsten aber nicht weiter als 200, weil dann die Qualität leidet, das Tempo nachlässt. Einmal übertreiben hängt mir zwei Tage hinterher. Man entwickelt über die Jahre sehr viel Körpergefühl.

STANDARD: Ein Tag ohne Training fühlt sich wie an?

Strasser: Das sind Tage, an denen ich nicht so entspannt bin, die sich mein Umfeld nicht wünscht. Das kommt aber selten vor. An solchen Tagen mache ich in der Stadt zumindest einige Wege mit dem Rad und habe mich zumindest draußen bewegt.

STANDARD: Sind sie ein Typ, der leidensfähiger ist als andere?

Strasser: Es ist vielleicht präpotent, sich das anzumaßen, aber ich glaube schon, dass ich überdurchschnittlich leidensfähig bin. Leichte masochistische Züge dürfte ich schon haben, und ich glaube, dass ich auch relativ gut physisch konstituiert bin, das haben mir Sportmediziner nach meiner Afrika-Durchquerung bestätigt. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich mich schon als kleines Kind überdurchschnittlich viel bewegte. Schon damals hat mich interessiert, wie weit ich mit dem Rad fahren kann. Für mich war die Ausdauerkomponente schon immer charmant, ich habe auch mehrere Extrem-Ironman mit vielen Höhenmetern absolviert. Ich wollte nie ein 100-Meter-Läufer werden.

STANDARD: Wie oft war bei "Ice 2 Ice" das Aufgeben oder Scheitern ein Thema?

Strasser: Eigentlich nie. Das darf nie wirklich zum Thema werden, daher bin ich immer nur mit einem Plan A unterwegs. Das wäre mir zwar in Peru fast zum Verhängnis geworden, als ich feststellte, dass ich mein Zeitziel nicht mehr erreichen konnte. Daran wäre ich beinahe zerbrochen. Da merkt man, welchen Stellenwert die mentale Komponente hat. Mein nicht kommunizierter Traum waren 80 Tage. Das hätte aber nur funktioniert, wenn ich nicht tausende Kilometer Gegenwind gehabt hätte. Wenn man aber auch einen Plan B und C vor Augen hat, dann neigt man zu sehr dazu, auf diese Pläne zuzugreifen.

STANDARD: Wie steht man über 84 Tage durch?

Strasser: Ich habe eine spezielle Technik. Immer dann, wenn ich nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll, versuche ich, mich von außen zu sehen. Also sehe ich einen Radfahrer, der dieses und jenes schon geschafft hat. Und dann stellt sich die Frage, ob es jetzt wirklich Zeit ist, das Handtuch zu werfen, oder ob nicht vielleicht ein Halbstunden-Powernap angebracht ist, damit danach die Welt wieder besser ausschaut.

STANDARD: Hatten sie auch nach dem folgenschweren Sturz auf einer Autobahn keine Zweifel?

Strasser: Es ist in Wahrheit nichts passiert, ein paar Schürfwunden und Prellungen. Mir hat vorher auch schon alles wehgetan. Man darf aber nicht weiterdenken. Die schlimmste Vorstellung ist, vom eigenen Betreuerwagen oder vom nachkommenden Verkehr überrollt zu werden. Aber wenn man zu viele Was-wäre-wenn-Fragen stellt, dann sollte man sich nicht auf ein derartiges Projekt einlassen.

STANDARD: Einen mehrspurigen Stadtautobahntunnel mit dem Rad zu durchfahren klingt nach riskantem Abenteuer.

Strasser: Ich musste auf einer achtspurigen Autobahn in Medellín vier Spuren wechseln, das Begleitauto war wegen des vielen Verkehrs nicht hinter mir, da hatte ich ziemliche Angst. Ich hatte auch gerade kein Licht dabei, weil der Tunnel überraschend kam. Ich versuchte möglichst schnell zu fahren, um den Geschwindigkeitsunterschied so gering wie möglich zu halten. Zum Glück ist nichts passiert.

STANDARD: Wie groß war der Substanzverlust?

Strasser: Gar nicht so schlimm, weil ich gut trainiert war. Ich habe aber viel Muskulatur verloren, die Beine sind viel dünner geworden, am Ende ist die Radhose schon sehr locker gesessen. Aber klar, das war einfach zu viel, das war katabol, also klassisch abbauend jeden Tag.

STANDARD: Waren Sie in Trance oder nahe am Einschlafen, als sie einmal von den Betreuern vom Rad geholt wurden, weil Sie Schlangenlinien gefahren sind?

Strasser: An der Grenze zum Einschlafen ist man oft. Aber selbst kriegt man das nicht mit. Das kann ich nur aus Erzählungen wiedergeben. Man selbst glaubt, kein Problem zu haben. Einmal dachten sie, ich wäre dehydriert, weil ich nur Blödsinn geredet habe, für mich aber hat alles gepasst. Man versucht sich in einen Flow-Zustand zu versetzen, weil es dann leichter geht. Leider kriegt man dann nicht immer alles hundertprozentig mit.

STANDARD: Bei der Sportler-des-Jahres-Gala sind Sie als "Sportler mit Herz" ausgezeichnet worden.

Strasser: Da geht's um Athleten, die sich aktiv für Charity einsetzen. Der Preis ist mit 5.000 Euro dotiert. Ich habe mit "Racing 4 Charity" schon beinahe 60.000 Euro an Spenden für das Forum ALS und die Open Medicine Foundation lukriert. Das macht mich schon stolz. Der Preis wird nach Publikumsvoting vergeben, das zeigt, dass viele Leute das Projekt mitbekommen haben.

Michael Strasser erzählt in im Interview über seine unglaubliche Reise.
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STANDARD: Sie sind UN-Mountainhero. Worum geht's dabei?

Strasser: Das ist eine neue Kampagne, bei der es unter anderem darum geht, dass man locker zwei Kilometer zum Supermarkt radeln kann, wenn ich "Ice 2 Ice" schaffe. Oft braucht es große Projekte, um kleine Messages weiterzubringen. Es wäre spannend, welchen Mehrwert ich für das Gesundheitswesen schaffe, weil ich doch glaube, viele Leute inspiriert zu haben, auch einmal auf das Rad umzusteigen.

STANDARD: Bei Ihrer Afrikadurchquerung "Cairo 2 Cape" in Rekordzeit 2016 (34 Tage und elf Stunden) wurden Sie öfter von Kindern mit Steinen beworfen. Wie kam es dazu?

Strasser: Die Kinder haben von weitem "money, money" geschrien, ich bin aber nicht stehen geblieben, das hat Aggressionen hervorgerufen, einerseits weil ich nichts gegeben habe, andererseits weil ich sie zwar gegrüßt, aber doch ignoriert habe. Dazu kommt, dass mein Begleitfahrzeug wie die Autos der Hilfsorganisationen weiß war und sie wohl dachten, dass sie etwas bekommen würden.

STANDARD: Damals ließen Sie sich auch von Taubheitsgefühlen von der Hüfte abwärts bis zu den Knien nicht stoppen.

Strasser: Nach zwölf Jahren habe ich nach vielen Tests einen Sattel gefunden, mit dem ich viel seltener unter Taubheitsgefühlen leide. In Afrika spürte ich nach Halbzeit der Fahrt kaum mehr etwas, auch nicht auf der Toilette. Das war beängstigend, weil ich nicht wusste, ob sich das wieder regeneriert. Wenn damals zur Wahl gestanden wäre, ob ich das Projekt schaffe oder unfruchtbar werde, dann hätte ich mich wohl für das Projekt entschieden. Man muss bereit sein, sehr viel auf eine Karte zu setzen.

STANDARD: Warum sind Sie nicht ein gewöhnlicher Radprofi geworden?

Strasser: Gute Frage. Ich habe mich lange mit Triathlon beschäftigt. Radprofi zu werden hat sich nie wirklich ergeben. Dass ich vom Sport mittlerweile überleben kann, ist irgendwie passiert. Ich hatte nie den Traum, das professionell zu machen. Dahinter gibt es keinen großen Masterplan.

STANDARD: Woher nehmen Sie die generelle Motivation für solche Abenteuer?

Strasser: Ich will sehen, wo meine Leidensgrenze liegt. Ich habe mir Afrika nicht vorstellen können, und vor einigen Wochen konnte ich mir das letzte Projekt nicht vorstellen. Das ist wahrscheinlich auch gut so.

STANDARD: Ist es nicht erstaunlich, was ein Mensch aushält?

Strasser: Ja, aber ich lebe das in einem sehr kontrollierten Setup aus. Sarah, eine an ALS erkrankte Freundin, die bei mir wohnt und mittlerweile im Rollstuhl sitzt, braucht sehr viel Hilfe. Die ihr am nächsten stehenden Menschen haben jetzt eine Ausnahmesituation, sie schaffen Prozesse, die sie sich früher auch kaum hätten vorstellen können. Das relativiert sehr viel. Wenn man muss, kann man vieles.

STANDARD: Ihre weiteren Pläne?

Strasser: Ich empfinde es als Privileg, nicht zu wissen, wo ich in ein, zwei Jahren stehen werde. Es ist ein großer Vorteil in unserer westlichen Welt, oftmals selbst bestimmen zu können, wo es langgeht. In Ländern wie Guatemala haben sehr viele Menschen nicht die freie Wahl, was sie in ihrem Leben anfangen wollen, dort dominieren existenzielle Probleme. (Thomas Hirner, 1.11.2018)