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Wer Bücher liebt, liebt nicht automatisch seinen E-Reader auch. Praktisch, zum Beispiel zum Verreisen, sind sie aber schon.

Foto: dpa/Arne Dedert

Neulich nahm ich ein Buch aus dem Regal, das ich schon lange nicht mehr in der Hand gehabt hatte. Ein alter Fahrschein fiel heraus, der mich an eine Begebenheit erinnerte, die mir lange Zeit sehr peinlich war. Heute kann ich den Gedanken an damals halbwegs verschmerzen. In vielen meiner Bücher stecken solche kleinen Souvenirs. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, sie dort zu verstecken, meine Bibliothek wird dadurch auch zu einem persönlichen Speicher. Sie trägt ja sowieso die Züge meiner Lebensgeschichte: In jedes Buch trage ich den Ort und das Datum des Kaufs ein.

Es gibt Schichtungen, die meiner Biografie entsprechen: deutsche Literatur während des Studiums, das wachsende Interesse für Philosophie, die nicht mehr gläubige Rückkehr zur Religion als Erkenntnisgegenstand, dazwischen diese verblichene Starbiografie von Ingrid Bergman, die in meiner Bücherwand den Beginn meiner Arbeit als Filmkritiker markiert.

Seit drei, vier Jahren gibt es in der Entwicklung meiner Bibliothek, in diesem Lebenswerk eines lesenden Menschen, allerdings einen Bruch. Ich lese zunehmend digital. Nahezu zwei Drittel meiner Bücher kaufe ich inzwischen für ein Endgerät, das nicht mehr in erster Linie mein Kopf und meine Hände sind. An der Liebe zu den konkreten Druckwerken ändert das nichts – was wirklich zählt, wird nach wie vor für die Bücherwand angeschafft, auf die ich von meinem Schreibtisch aus schaue. Aber das historische Sachbuch, die politische Aktualität, das schnell benötigte französische Buch, der polemische Essay kommen inzwischen vorwiegend als EPUB zu mir, gelegentlich auch als PDF.

Mein erstes E-Buch

Ich bin ein Fan des digitalen Lesens geworden, ohne dass ich deswegen meine Liebe zu Büchern verloren hätte. Es gibt allerdings einen Punkt, den ich anfangs kaum beachtet habe, der mich nun zunehmend interessiert: Wo ist eigentlich meine neue, meine digitale Bibliothek? Und ist es denn meine Bibliothek? Sobald man sich mit diesem Gedanken ein wenig beschäftigt, stößt man auf eine Vielzahl von interessanten Aspekten. Ich würde sogar meinen, dass wir an dieser Frage geradezu idealtypisch sehen können, was sich mit dem Eintritt in das umfassend digitale Zeitalter gerade vollzieht.

An mein erstes E-Buch kann ich mich noch erinnern: Es war ein Sachbuch über einen Kriminalfall in Peking in den 1920er-Jahren. Ich hatte eine Rezension in der New York Review of Books gelesen, stellte dann beim Suchen fest, dass ich es im Grunde sofort haben konnte, und so bestellte ich zum ersten Mal ein Buch für den Kindle von Amazon.

Damals hatte ich noch einen nur sehr ungefähren Begriff von Lesegeräten, von Anwendungen und von Anbietern. Digitales Lesen, das fand man bei Amazon, und die boten eben den Kindle an, den ich auf meinem Computer installierte. Schnell kamen ein paar weitere Bücher dazu. Die sowieso im Grunde utopische, lebenslange Vorratswirtschaft, die man als Bücherkäufer betreibt, beschleunigt sich im Netz manchmal bedenklich. Dann begannen die Schwierigkeiten. Amazon ist ein Weltkonzern, der alles von mir wissen will, aber sich gegenüber den Finanzbehörden unsichtbar zu machen versucht; es ist nur konsequent, dass ich mit einer solchen Firma wenig zu tun haben möchte.

Bibliothek als Lebensleistung

Zum Glück gibt es Alternativen: Der deutsche Buchhandel hat mit dem Tolino im Grunde relativ schnell auf den Kindle reagiert, allerdings ist der Tolino ein ziemlich verschlungenes System, und bei amerikanischen Büchern, die auf dem Kindle problemlos zu öffnen sind, kann man beim Tolino bald einmal vor verschlossenen Lettern stehen, obwohl man das Buch gekauft hat. Man kann diese etwas konfusen Jahre des E-Lesens, die in etwa mit der Zeit der Videokassetten vor der Durchsetzung des VHS-Standards vergleichbar sind, getrost übergehen, denn inzwischen haben sich die Verhältnisse konsolidiert.

Allerdings mit dem Ergebnis, dass ich inzwischen vier digitale Bibliotheken habe: eine auf dem Kindle, eine auf dem Tolino, eine bei iBooks von Apple und ein paar versprengte Einheiten in den Digital Editions, einem Reader von Adobe, den ich hasse, weil er so wenig kann. Bei Apple gelten im Grunde die gleichen Vorbehalte wie gegen Amazon, aber die Leseapplikation ist für meine Bedürfnisse die beste, also muss ich da Kompromisse machen.

Im analogen Zeitalter war eine Bibliothek sogar mehr als eine Lebensleistung: Sie ging von Generation zu Generation, sie war Ausweis eines bürgerlichen Zeitalters, in dem ganze Bildungsgeschichten abzulesen waren. Natürlich blieben die Goethe-Ausgaben aus dem 19. Jahrhundert in den nachfolgenden Generationen häufig ungelesen, aber im kommunistischen Bukarest oder Lemberg konnten alte Bestände aus anderen Epochen zu echten Ressourcen werden. In jedem Fall war eine Bibliothek ein Zeichen an der Wand: Indem man Bücher in Regale reihte, reihte man sich im weitesten Sinn in die Aufklärung ein, auch wenn Felix Dahn oder Gustav Freytag konkret gegen Schiller oder Schopenhauer überwogen. Man setzte ein Zeichen für die Evolution der Gedanken, indem man Wände mit Büchern befüllte.

Ich meine tatsächlich, dass ich davon schon etwas begriff, als ich mit 13 Jahren mein erstes richtiges Buch kaufte: Das Fräulein von Scuderi von E. T. A. Hoffmann in einer Reclam-Ausgabe. Reclam war natürlich sowieso ein Verlag, der sofort in Richtung weiterer Erwerbungen wies, mit dem einheitlichen Design und dem im Verlagsprogramm ausgewiesenen Anspruch: Wer Reclam kaufte, kaufte nicht einfach ein kleines Buch, sondern einen Teil einer Universalbibliothek. Unter diesem Anspruch der Universalität steht im Grunde bis heute das Bücherkaufen, wenn es nicht bloß um Lesefutter geht. Man kuratiert für sich einen universalen Weltzugang.

Übergangsphänomene

Inzwischen trage ich diesen Zugang auf meinem Telefon bei mir. Ich fahre ein paar Stationen mit der U-Bahn und lese ein Kapitel einer neuen Biografie von Franziska zu Reventlow. Im Flugzeug suche ich zuerst den USB-Anschluss, denn es könnte sonst ja dem Telefon der Saft ausgehen, und nirgends ist man idealer mit Texten allein als an Orten ohne Internet. Das digitale Lesen ist ein gigantischer Fortschritt, der allerdings um einen hohen Preis erkauft wird. Denn ich teile meine Bücher mit dubiosen Unternehmen. Sie gehören nur nominell mir, de facto liegen sie irgendwo in einer Serverfabrik. Über die damit zusammenhängende Energiebilanz würde ich gern mehr wissen, erstaunlicherweise scheint niemand den exponentiell wachsenden Stromverbrauch bedenklich zu finden. Die ersten E-Bücher waren im Grunde sehr primitive Ausspielungen von Textdateien in Anwendungen. Viel hat sich daran bis heute nicht geändert. Wenn ich ein Buch mit Anmerkungen kaufe, kann ich viel bequemer zwischen Text und Endnote hin und her schalten, zitieren aber kann ich aus dem E-Buch nicht, denn die Mühe, die analoge und die digitale Ausgabe zu verknüpfen, macht sich bis heute kaum ein Verlag – und das gilt auch bei wissenschaftlichen Büchern. Das digitale Lesen ist also von einer der wichtigsten Funktionen des Buchwesens bisher auf eine geradezu archaische Weise abgetrennt: vom belegbaren Austausch von Textstellen durch Zitation mit Quellenangabe.

Alle anderen Funktionen des Lesens (Unterstreichen, Annotieren, Kopieren) sind in den Applikation (und Lesegeräten) so recht und schlecht eingebaut – das ist dann in erster Linie eine Frage des Designs, für das man sich entscheidet. Und eine Spekulation auf Zukunft. Denn im Grunde schließe ich derzeit mit Apple und dem Tolino einen Pakt. Ich muss darauf vertrauen, dass diese Unternehmen eine Anwendung auch in Zukunft unterstützen, die mein Innerstes enthält – die subjektive Seite meines Lesens, soweit sie sich in den Text einträgt. Vermutlich sind die Bücherbestände, die ich derzeit mit den Datengiganten teile, aber sowieso nur Übergangsphänomene. Die digitale Bibliothek der Zukunft muss erst noch erfunden werden. Meine Souvenirs stecke ich bis auf weiteres in Antiquariatsware. (Bert Rebhandl, 3.11.2018)