Die Marchesa Alfonsina De Luna meint es gut mit ihren Leuten. "Willst du sie etwa zum Leiden verurteilen?", fragt sie ihren Sohn, der wissen will, wie lange sie die Bauern auf ihrem Landgut noch in Unwissenheit halten will. Die Teilpächter leben nämlich wie in alten Zeiten, sie schuften für die Herrschaft wie Leibeigene.

Lazzaro (Adriano Tardiolo, li.) stößt immer wieder auf Verirrte und Flüchtlinge wie sich selbst, für die nirgendwo Platz ist. Auf subtile Wiese ist Alice Rohrwachers Film auch eine Antwort auf die Gesellschaftstheorien des modernen italienischen Kinos.
Foto: Viennale

So setzt sich mitten in Italien in einer Zeit gar nicht so lange vor der unseren ein Abhängigkeitssystem fort, das eigentlich längst historisch geworden sein sollte: ein später Rest des Feudalismus. Die Marchesa, Spitzname "Giftschlange", sieht in dieser Konstellation vor allem Vorteile für alle, denn die Freiheit ist doch noch viel anstrengender als das Leben in einer hierarchischen Ordnung.

Ein ideales Opfer

Im Mittelpunkt der Geschichte von Glücklich wie Lazzaro steht ein junger Mann, der so heißt wie der Film: Lazzaro. Sein Glück ist der springende Punkt: Lazzaro felice ist der Originaltitel. Der glückliche Lazzaro. Er ist auf der sozialen Stufenleiter ganz unten, denn er wird selbst von den Seinen ausgebeutet: wenn die Tabakernte auf dem Höhepunkt ist, muss Lazzaro laufen wie ein Verrückter, ein Bündel hier, ein Bündel da, alles landet bei ihm.

Er muss alles wegarbeiten, und er tut das mit einem Gleichmut, mit einer Arglosigkeit, die ihn zum idealen Opfer machen. Sein Glück hat also tatsächlich etwas mit fehlendem Bewusstsein zu tun. Lazzaro erinnert an einen Heiligen, man könnte an franziskanische Ideale denken. Er läuft durch die Welt als Opferlamm.

Sein Name provoziert noch eine weitere Assoziation: Lazzaro ist der italienische Name für Lazarus, den Jünger Jesu, der einige Zeit tot war und dann ins Leben zurückkehrte. Etwas Vergleichbares geschieht auch mit Lazzaro, nur ist der Zeitraum, der zwischen seinem "Tod" und seiner "Auferstehung" liegt, ungleich größer.

Trailer zu "Glücklich wie Lazzaro".
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So wird eine Gegenwartsszene möglich, die sehr deutlich auf die aktuelle politische Lage unter dem dominanten Innenminister Salvini beziehbar ist, obwohl Alice Rohrwacher von dieser politischen Konstellation während der Herstellung des Films noch nichts wissen konnte: Lazzaro ist auf der Suche nach seinen Leuten und gerät dabei in eine Art Arbeitsauktion, bei der der ehemalige Verwalter des Gutes Inviolata Menschen zum Ernteeinsatz einteilt. Es sind Gesichter aus allen Teilen der Welt, und sie unterbieten einander schonungslos, um an ein bisschen Taglöhnerei zu kommen.

Die "mezzadri", die rechtlosen Pachtbauern des ersten Teils von Glücklich wie Lazzaro, finden sich im zweiten Teil am Rande einer Großstadt wieder, sie zählen nun zum neuen Lumpensubproletariat, halb Bettler, halb Kleinkriminelle.

Ganz unten

Sie zählen zu einem Milieu, das bei Fellini romantisiert wurde und auf das Pasolini viele Hoffnungen setzte: Ganz unten bei den Außenseitern der Gesellschaft, unterhalb des Proletariats, auf das die orthodoxe Linke ihre Klassenhoffnung setzte, dort sollten sich Spuren eines nicht entfremdeten Lebens finden. Diesen theoretischen Anspruch löst Alice Rohrwacher nun pointiert ein.

Lazzaro ist tatsächlich auch eine Antwort auf die Gesellschaftstheorien des italienischen politischen Kinos. Man könnte an Marco Bellocchios Klassiker Die Faust in der Tasche (1965) denken oder an Figuren, die Ninetto Davoli bei Pasolini gespielt hat.

Lazzaro geht in seiner Arglosigkeit so weit, dass er sich mit dem Klassenfeind identifiziert. Er freundet sich mit Tancredi, dem Sohn der Marchesa Alfonsina De Luna an, und er sucht diesen Tancredi viel später, um den Urzustand seines Glücks wiederherzustellen: eine Situation, in der ein adeliger Schnösel und ein ganz kleiner Mann wie Halbbrüder den "großen Betrug" beenden könnten. So läuft Glücklich wie Lazzaro auf eine Neudeutung des berühmten politischen Bilds von Thomas Hobbes hinaus: Der Wolf, der die Menschen einander sind, ist vielleicht nichts anderes als ein Schreckgespenst, das längst entzaubert sein könnte.

Heiliger Narr

Aber von Zeit zu Zeit heult dann eben doch wieder jemand mit den sprichwörtlichen Wölfen, und so bleibt der große Betrug von der unmöglichen Freiheit weiter wirkmächtig. Lazzaro geht schließlich mit einer Gummischleuder in einen Kampf, den er nicht gewinnen kann, weil er seinen Gegner gar nicht kennt.

Er bleibt ein heiliger Narr, und Alice Rohrwacher lässt offen, ob es für die Freiheit im heutigen Italien noch einen anderen Ort geben kann als den einer negativen Utopie. (Bert Rebhandl, 2.11.2018)