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Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano, Sprachkunst und Spurensuche.

Foto: Reuters

Ein "Konzentrat aller Bücher" von Patrick Modiano sei Schlafende Erinnerungen, dieser schmale Band ohne Genrebezeichnung, lobte die französische Kritik zu Recht – allerdings ist jedes Prosawerk des Nobelpreisträgers von 2014 höchstkonzentriert. Es stellt eine dichte, dennoch lockere Spurensuche auf den verschlungenen Wegen von Autobiografie und Fiktion dar.

Schlafende Erinnerungen steht auf dem Cover; dies benennt einen der ganz wesentlichen Aspekte in Modianos Literatur. Das 2017 in Paris erschienene Original spielt zudem auf eine Assoziation an, die zu den bruchstückhaften Episoden dieses neuerlichen Aufbruchs in die Vergangenheit passt. Das wörtlich übersetzte Souvenirs dormants lässt locker an La Belle au bois dormant (Dornröschen) denken, immerhin sind es Frauenfiguren aus den frühen Jahren des Ich-Erzählers, die ihn auf verschlungenen Schleifen durch sein Paris von damals treiben.

Den Anstoß gibt ein Einband in den Bücherkisten der Antiquare an der Seine, wie es im ersten Satz mit feinem Bezug auf den eigenen Titel heißt: "Eines Tages auf den Quais hat ein Buchtitel mein Interesse geweckt, Die Zeit der Begegnungen." In der Folge beginnt das Ich seine Erinnerungen an eine Zeit zu wecken, in der für ihn die Begegnungen schwierig waren.

So steigen die Sonntagabendtreffen bei Martine Hayward aus den Tiefen des Gedächtnisses; dann die Tochter eines russischen Freundes des abwesenden Vaters, die am Telefon sagt "Ich werde dir alles erklären" und unerklärt bleibt; in der von der Mutter verlassenen Wohnung eine Mireille Ourousov; in einer Buchhandlung für okkulte Wissenschaften eine Geneviève Dalame, deren Freundin Madeleine Péraud ... Die Namen nehmen Gestalt an, in wenigen Strichen werden sie greifbar, Blitzlichter aus der Abstellkammer der Zeit. Fragmente von Geschichten tauchen auf, verbunden mit topografischen Angaben.

Authentische Fiktion

Wieder folgt man Modiano fasziniert durch Paris, in ein Netzwerk des Damals. Um Ordnung in seine Erinnerungen zu bringen – "jede von ihnen ein Puzzleteilchen, viele fehlen jedoch, sodass die meisten verstreut daliegen" -, notiert der Ich-Erzähler Namen. Sie blinken "wie Signale, die vielleicht hinführen zu einem verborgenen Weg", wie die Netzpläne in der Métro aufleuchten, wenn man eine Verbindung sucht: "Ich war mir sicher, in Zukunft bräuchte man den Namen einer Person, der man einst über den Weg gelaufen ist, nur auf einem Bildschirm einzugeben, und ein roter Punkt würde den Ort in Paris anzeigen, wo man sie wiederfinden kann." Über den Weg gelaufen, das ist für die Begegnungen bei Modiano der passende Ausdruck.

Die Gänge durch Paris führen in die Lebensphase der sozialen Fluktuation, der Ungebundenheit und der Einsamkeit. Vieles war unklar, vieles bleibt unklar. Aufgestöbert aus dem Schlaf der Vergangenheit durch Buchtitel, Sätze, Bilder, Adressen in einer Metropole mit ihren neuralgischen Punkten ungelebter Möglichkeiten. Paris, sagt Modiano, könne man wie ein Palimpsest lesen.

So knüpft er auf engem Raum eindringliche Verbindungen, die letztlich ungewiss bleiben müssen – wie auch die Person des Ich-Erzählers. Er ist wohl eng an Modianos Lebenslauf angelehnt, aber spät, auf den letzten Seiten, erfährt man, dass es ein Jean D. sei. So authentisch diese Prosa klingt, so sehr steht sie auf dem Terrain der Fiktion. Ein Kern der Poetik erschließt sich im Hinweis auf ein "Dossier" über Jean D., das ein Gewaltverbrechen andeutet. Wie er es vor dreißig Jahren in einem Roman getan habe, meint er es zu "entschärfen", indem er einzelne Passagen unter die Seiten mische:

"Auf diese Weise wird man nie erfahren, ob sie in die Wirklichkeit gehören oder in den Bereich des Traums." Ist nicht Erinnerung eine Mischung von Wirklichkeit und Traum? Mit dieser Ungewissheit des Gedächtnisses arbeitet Modiano. Der Hinweis bedeutet ja, dass der Text kein Roman sei, denn das "Dossier" wird nicht entschärft, sondern zitiert; zugleich weist der Name Jean D. für den Ich-Erzähler das Buch als Werk der Fiktion aus.

Oberthema Abwesenheit

Im Hintergrund steht ein Oberthema von Modiano: die Abwesenheit, dadurch die Angst vor der Leere. Sie gilt es aus dem Vorratslager der Vergangenheit zu füllen. Seine Arbeit, sagt er, sei eine "unendliche, oft vergebliche Suche". Was er findet, ist fragil, aber nicht nostalgisch. In Livret de famille, seinem autobiografischen Buch, schreibt er 1977, Leben heiße "s'obstiner à achever un souvenir". Das lässt sich mehrdeutig verstehen: Erinnerung abschließen oder aufbrauchen, töten.

Seit Jahrzehnten bringt der große Stilist der knappen Erinnerung wundervolle Fundstücke in seiner Sprachkunst zum Vorschein: ein Lesevergnügen und, kaum merklich, eine Herausforderung. Beidem sollte man sich mit Schlafende Erinnerungen hingeben. (Klaus Zeyringer, 5.11.2018)