Überfordert mit sozialen Kontakten: Autistische Kinder sind durch das Verhalten anderer oft überfordert und reagieren mit Wut, Verzweiflung oder Rückzug.

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Im Alter von drei Jahren hört Owen Suskind plötzlich auf zu sprechen. Wie andere Kinder mit der Entwicklungsstörung Autismus, die in der Regel vor dem dritten Lebensjahr einsetzt, hat Owen nicht nur Probleme mit dem Sprechen. Die vielen Reize der Umwelt, die auf ihn einprasseln, überfordern ihn. Vor allem der soziale Umgang mit anderen Menschen ist für ihn ein Buch mit sieben Siegeln.

Doch seine Familie lernt mit dem Kleinen mithilfe von Dialogen aus Disney-Filmen zu kommunizieren, die Owen in- und auswendig kennt. Die Gefühle aus den Filmen sind offenbar so überzeichnet, dass Owen sie verstehen und auf diesem Weg seine eigenen Emotionen einordnen kann.

Berichte in den Medien und Filme wie der US-amerikanische Dokumentarfilm "Life, Animated" von 2016, der das Heranwachsen von Owen Suskind schildert, haben das Thema Autismus durchaus populär gemacht: indem sie Menschen mit Autismus wahlweise als geniale Außenseiter zeigen oder dem Zuschauer wenigstens ein Happy End bieten.

Tendenz steigend

Doch nicht nur das gesellschaftliche Interesse an der Entwicklungsstörung ist im Laufe der Zeit stetig angestiegen. Auch die Zahlen, die die Häufigkeit der Erkrankung belegen, schnellten nach oben. Vor allem die US-Behörde Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta (CDC) schraubte in ihren nichtrepräsentativen Schätzungen die Zahlen für die USA immer weiter in die Höhe. Waren demnach etwa im Jahr 2006 nur etwas mehr als 90 von jeweils 10.000 achtjährigen Kindern betroffen, wartete das CDC kürzlich mit neuen Zahlen für das Jahr 2014 auf. Demnach sollen von jeweils 10.000 Achtjährigen 168 unter der Autismus-Spektrum-Störung leiden – was einer Prävalenz von 1,7 Prozent entspricht.

Manche Forscher sehen die vermeintlich alarmierenden Zahlen dieser aktuellen amerikanischen Studie kritisch. Denn die Schätzungen basieren auf Informationen aus Akten, die ganz unterschiedliche Personen wie beispielsweise Lehrer erstellt haben. Experten entscheiden dann aufgrund der geschilderten Symptome in den Akten, ob ein Kind Autismus hat oder nicht hat. Es handelt sich also nicht um real existierende Patienten, die hier untersucht worden sind.

Andere Experten nehmen die Zahlen hingegen ernst. "Eine Prävalenz von 1,7 Prozent entspricht ungefähr den höheren Zahlen, die wir aus anderen neueren amerikanischen Studien kennen", sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Christian Popow von der Medizinischen Universität Wien. In Deutschland, Österreich und der Schweiz schätzt man die Prävalenz derzeit auf rund ein Prozent, damit wäre auch hierzulande die Tendenz steigend.

Hilfe bei Beeinträchtigung

Doch es gibt noch eine allgemeinere Kritik an den insgesamt hohen Zahlen aus den USA, die immer wieder laut wird. Dort werden nämlich in einigen Bundesstaaten staatlich geförderte Therapien für Kinder mit Autismus angeboten. Und damit Kinder eine solche Therapie erhielten, sei man mit der Vergabe der Diagnose möglicherweise etwas großzügiger. "Aus meiner Sicht ist das allerdings begrüßenswert", sagt Popow.

Es sei letztlich egal, ob die Kinder in die Schublade "Intellektuelle Beeinträchtigung mit sozialer Auswirkung" oder in die Schublade "Autismus" gesteckt würden – Hauptsache, sie kämen auf diesem Weg in den Genuss einer Behandlung. "Die USA sind uns in dieser Hinsicht voraus, denn in Österreich sind Menschen mit Autismus immer noch unterversorgt." Es gebe zu wenige spezialisierte Einrichtungen, und die Krankenkassen übernehmen die Kosten nur zu einem ganz geringen Teil.

Der Dokumentarfilm "Life Animated" (2017) erzählt die wahre Geschichte von Owen Suskind, der mithilfe von Disney-Filmen lernte, Gefühle zu verstehen, und dadurch kommunizieren konnte.
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Dass die Zahlen betreffend die Häufigkeit von Autismus in den letzten Jahren und Jahrzehnten so zugenommen haben, hängt möglicherweise mit dem gestiegenen Bewusstsein für die Störung zusammen. "Ich habe selbst in der Vergangenheit sicherlich den einen oder anderen Fall von Autismus übersehen", sagt Popow. Gerade die weniger stark Betroffenen, die über relativ gute kommunikative Fertigkeiten verfügen, übersehe man leichter. Heute weiß man hingegen mehr über Autismus und insbesondere, dass die Störung entgegen früheren Annahmen durchaus behandelbar ist. Die Publikationen über Autismus haben in den letzten Jahrzehnten extrem zugelegt, und es gibt heute auch mehr diagnostische Einrichtungen. In Deutschland ist die Diagnostik flächendeckend etabliert.

Doch Experten diskutieren auch, ob sich die Zunahme der Autismusdiagnosen vielleicht auf veränderte Umweltfaktoren zurückführen lässt. Christian Popow hält von dieser Erklärung nicht viel. So würden Ernährung, Umweltgifte oder Schwermetalle keine signifikante Rolle spielen. Widerlegt sei definitiv, dass Masernimpfungen Autismus verursachten.

Ältere Eltern

"Was allerdings eine Rolle spielen könnte, ist das steigende Alter erstgebärender Mütter und auch das der Väter." Mit dem Alter nimmt nämlich die genetische Anfälligkeit zu. "Das ist sicherlich ein Teil der Geschichte." Gestiegen sei sicherlich auch der Leistungsdruck in den Schulen und die frühe Unterbringung in den Kindergärten – was letztlich ein früheres Erkennen von Autismus-Spektrum-Störungen begünstige. "Schließlich fallen die Kinder vor allem dann auf, wenn sie in ihren sozialen Fertigkeiten überfordert sind." (Christian Wolf, 6.11.2018)