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Arjun Appadurai, Professor an der New York University, glaubt, dass sich die Welt in eine falsche Richtung bewegt.

Foto: Picturedesk / EPA / Salvatore di Nolfi

"Wir brauchen eine liberale Multitude", schrieb Arjun Appadurai kürzlich in einem Aufsatz über die Bedrohung der freiheitlichen Demokratien. Europa und hier im Speziellen Deutschland sieht der aus Indien stammende, schon lange in den USA arbeitende führende Theoretiker der Globalisierung in einer beinahe schon epochalen Verantwortung für die Zukunft der Ideen der Aufklärung. Auf Einladung des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften der Kunstuni Linz, des Instituts für Kultur und Sozialanthropologie der Uni Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sprach Appadurai zum Thema "The Future of the European Enlightenment in the Age of Globalization".

STANDARD: Sie haben über die Zukunft der europäischen Aufklärung im Zeitalter der Globalisierung gesprochen. Beginnen wir am besten mit einer Klärung der beiden zentralen Begriffe.

Appadurai: Unter Aufklärung verstehe ich eine Idee, aber auch eine historische Periode am Ende des 18. Jahrhunderts, als in Frankreich, England und Deutschland Ideen und Werte entdeckt wurden: Vernunft, Erziehung, Humanität, Universalität und auch Gerechtigkeit. Das war damals eindeutig eine neue Entwicklung in Europa und in der Welt und hatte enorme Auswirkungen. In Deutschland entstand damals mit Kant eine Tradition, die bis zum Konzept der Öffentlichkeit bei Jürgen Habermas fortdauert.

STANDARD: Der Begriff Globalisierung wird heute fast inflationär gebraucht. Wie kann man ihn sinnvoll verstehen?

Appadurai: Ja, da wird auch viel darüber diskutiert, wann Globalisierung begonnen hat. In der akademischen Welt setzen viele sehr früh an, weil die Menschen ja immer schon in Bewegung waren. Ich meine aber, dass wir von Globalisierung am besten mit Blick auf eine Periode ungefähr ab 1970 sprechen sollten. Damals entstand die Idee, dass wirtschaftliche Grenzen zwischen Nationen zu überwinden wären. 1989 sahen wir den Sieg dieser Idee, sie hatte sich aber vorher schon entwickelt. Dazu kam dann die Geburt des Internets und der digitalen Sphäre. Und schließlich der entwickelte Finanzkapitalismus. Das sind die Kräfte in unserer Zeit, sie haben miteinander zu tun. Das meine ich, wenn ich von Globalisierung spreche.

STANDARD: Sie haben einen Beitrag zu einem Sammelband mit dem Titel "Die große Regression" veröffentlicht. Sie teilen also die Auffassung, dass die Welt sich in die falsche Richtung entwickelt?

Appadurai: Der Begriff stammt nicht von mir, aber ich kann ihm etwas abgewinnen. Etwas geht gerade weltweit schief. Inwiefern es sich da um eine Regression handelt, also um einen Rückfall von einem schon erreichten Niveau, bin ich mir nicht sicher, vieles ist neu. Offensichtlich aber gibt es einen Rückgang zu Phänomenen, die wir überwunden glaubten.

STANDARD: Demagogie und Autoritarismus sind unübersehbar. Die europäische Idee verliert an Attraktivität. Hat das vielleicht damit zu tun, dass der Universalismus selbst ein europäisches Machtkonzept ist? Sie kennen diese Frage ja persönlich von beiden Seiten.

Appadurai: Ich kam sehr jung in die USA, habe aber seither immer wieder über mein Heimatland Indien geschrieben. Das ist nun einmal der Ort, über den ich nach wie vor am meisten zu sagen habe. Geprägt bin ich aber durch westliches akademisches und politisches Denken. Ich halte Universalismus tatsächlich für ein spezifisch westliches Konzept, für ein Produkt der Aufklärung. Aber das ist für mich kein Problem. Lassen Sie es mich zuspitzen: Universalismus muss nicht universal anerkannt werden, muss nicht überall durchgesetzt werden. Die Aufklärung von Kant dachte, dass der Universalismus leer und schwach ist, wenn er nicht überall angenommen wird. Wenn man diesen Wert aber heute auf Nichteuropäer anwenden will, kommt man auf sehr glattes Terrain.

STANDARD: Warum eigentlich? Weil der Westen zwar von der Geltung der Menschenrechte sprach, sich aber um wirtschaftliche Gerechtigkeit nie kümmerte?

Appadurai: Der Westen war mit manchen Werten schneller als mit anderen. Man sollte nicht übersehen: Diese Werte wurden nicht einmal in Europa vollständig durchgesetzt. Es sind Ideen mit anspruchsvollen Voraussetzungen. Wenn Habermas von Öffentlichkeit spricht, dann beruht diese auf Bildung und auf Freizeit. Nicht alle haben Zugang. Deswegen ist der Anspruch nicht schlecht. Die Menschen müssen weiterhin lesen und denken lernen.

STANDARD: Die größte Herausforderung für den Universalismus der Aufklärung sehen viele im Islam: eine Religion, die den Buchstaben des heiligen Buches der Muslime höher stellt als die Vernunft.

Appadurai: Es gibt ein Problem mit dem Islam, aber das hat nichts mit einem etwaigen Wesen des Islam zu tun. Die Tendenzen zu Puritanismus, Fundamentalismus, Wahhabismus und so weiter, das sind alles moderne Phänomene. Zuerst einmal geht etwas schief bei der Begegnung der islamischen Welt mit dem Westen. Denn die Moderne kam mit der Waffe in der Hand nach Ägypten und in den Nahen Osten. Das ist kein Idealfall einer Begegnung. Das bringt extreme Reaktionen mit sich. Es gibt aber inzwischen Auffassungen etwa von dem Anthropologen Irfan Ahmad, dass der Islam eigene Formen von Kritik, kritischem Vermögen hervorgebracht hat. Davon ist zurzeit kaum die Rede. Dagegen ist es interessant, dass so viele Länder in der Welt nun die Zeichen der "islamischen Krankheit" zeigen. Wir sind alle Saudis heutzutage. Trump, Putin, Xi Jinping, Duterte, Bolsonaro. Diese Typen schauen aufeinander. 95 Prozent der Muslime in aller Welt wollen dagegen nur in Frieden leben oder überleben.

STANDARD: In Ihrem Buch "Banking on Words" haben Sie eine Analyse der Finanzkrise von 2008 vorgelegt. Spielt diese eine Rolle in der heutigen Krise der Aufklärung?

Appadurai: In jedem Fall, aber die konkrete Verbindung ist nicht einfach zu belegen. Der zwischenzeitliche Kollaps des Finanzkapitalismus und der globale Rechtsruck haben indirekt miteinander zu tun. Eine Kontrolle der Nationalstaaten über ihre nationale Wirtschaft gibt es nicht mehr. Das liegt am Finanzkapitalismus. Damit bleibt als Feld der Auseinandersetzung nur Kultur. Deutschland und auch Österreich bilden eine Ausnahme, denn hier gibt es noch eine entwickelte, differenzierte Ökonomie. Aber auch diese beiden Länder sind in hohem Maß abhängig von globalen Verflechtungen. Umgelegt auf die normalen Menschen heißt das: Sie bezahlen mit Schulden für die Profite des Finanzkapitalismus. Sie fühlen sich verarmt. Das Leben wird schwieriger. Der Finanzkapitalismus hat risikobasierte Institutionen mit mächtigen Instrumenten erschaffen, und normale Menschen zahlen dafür mit dem Schwinden ihrer Möglichkeiten auf dem Mietmarkt.

STANDARD: Sie bemühen den Sozialwissenschafter Albert O. Hirschman hinsichtlich der Frage, warum Menschen ihre Zustimmung zurückziehen. Warum?

Appadurai: Hirschman hat 1970 ein großes Buch über Loyalität geschrieben: Warum halten Menschen bestimmten Parteien und Marken die Treue, und warum kippt das irgendwann? Heute ist die Marke, der die Zustimmung verlorengeht, die Demokratie selbst. Viele Menschen verlieren die Geduld mit den Prozessen der Aushandlung und der Öffentlichkeit. Stattdessen glauben sie an apokalyptische Beschleunigung. Und die Politiker machen die dazu gehörenden Versprechungen: Morgen schon soll alles gut sein, wenn man sie Politik im Handstreich machen lässt. (Bert Rebhandl, 7.11.2018)