Der einzige Funken Erotik in "RDR2" – und das ist schon hoch gegriffen – sind Vollbäder im Hotel.

Foto: Rockstar Games / Red Dead Redemption 2

Arthur Morgan, der Antiheld des Westernspiels "Red Dead Redemption 2", ist ein interessanter Charakter. Ein Gesetzloser, der sich von den Restriktionen der Zivilgesellschaft abwendet, aber sich den Gesetzen seines Anführers unterwirft. Ein Outlaw mit Moralverständnis. Ein Massenmörder, der einem Verletzten am Straßenrand zu Hilfe eilt. Ein starker Mann, der über seine Ex nicht hinwegkommt. Ein Raufbold, der einen Saloon kurz und klein schlägt, aber niemals Hand anlegen würde an die Stundenmädchen, die ihm schöne Augen machen. Ein ewiger Optimist in einer hoffnungslosen Welt. Das Werteverständnis und die Gesetze, auf denen Rockstars jüngste Wildwestfantasie aufbaut, sind allerdings generell schwer zu durchschauen.

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DER STANDARD

Spielerische Scheinfreiheit

Das liegt einerseits an dem widersprüchlichen Konzept der spielerischen Freiheit. Das Open-World-Game erklärt Spielern gleich eingangs, dass es einem selbst überlassen ist, sich "ehrenhaft" oder "unehrenhaft" zu verhalten. Ein Ehre-Meter wertet Aktionen und bestimmt dann, wie Mitmenschen und Fremde auf Arthur reagieren – wie leicht man abseits der vorgeskripteten Missionen im offenen Spiel in Schießereien verwickelt wird und auch, welche Outfits man erwerben darf. Eine vermeintliche Freiheit, die noch dazu von Anfang an nur in einem sehr engen Rahmen ausgelebt werden darf. Denn während Morgan im offenen Spiel sich aussuchen kann, ob er jemanden bestiehlt oder ermordet oder einfach eine nette Konversation führt, ist Morgan in den meisten Missionen gezwungen, alle Widersacher auszuradieren.

Balanceakt in Sachen Doppelmoral

Andererseits folgt diese eingeschränkte spielerische Freiheit einem sehr selektiven Moralverständnis. Während ein Mord oder ein Raub an Passanten oder Polizisten im offenen Spiel unverzüglich mit einem Minus vermerkt werden, bleibt das hundertfache Abschlachten in den Story-Missionen zumeist unbemerkt vom Ehre-System. Ganz abgesehen davon, dass man dann in beiden Fällen eine Schar Gesetzeshüter auf den Fersen hat.

Zurückzuführen ist diese Doppelmoral letztlich wohl auf den Versuch der Entwickler, eine pragmatische Balance aus narrativer Konsequenz und Weltsimulation zu finden. Den Sheriff im Zuge einer Mission umzulegen ist notwendig, um in der Geschichte voranzukommen. Man kann seinem Schicksal hier nicht auskommen. Den Sheriff aber im offenen Spiel abzuknallen, wird bestraft, weil es nicht notwendig war. Wenn auch das Ergebnis das gleiche ist, so sind doch die Umstände entscheidend. Das ist nachvollziehbar, aber nur bedingt realistisch und spielerisch gar nicht mal so befreiend.

Überleben statt leben

Bemerkenswert unter dem Gesichtspunkt einer Weltsimulation ist zudem, dass Rockstar das Leben im Wilden Westen spielerisch vorwiegend als Überleben porträtiert. Auch wenn man sich im Saloon betrinken oder am Lagerfeuer mit seinen Bandenmitgliedern singen kann – Intimität wird ansonsten praktisch ausgeblendet. Morgan bekommt keine Möglichkeit, eine Affäre oder gar Beziehung zu haben, und selbst die Stundenzimmer in den Hotels und Saloons sind lediglich den Statisten überlassen. Der einzige Funken Erotik – und das ist schon hoch gegriffen – sind Vollbäder.

Aus der Sicht Morgans ergibt das vielleicht noch irgendwie Sinn, da man ihn in Zeiten wenig erbaulicher Ausweglosigkeit begleitet. Die letzte Freundin hat ihn verlassen, und er stürzt sich in seine letzte Überlebensschlacht – so die Hoffnung. Doch erstens fragt man sich irgendwann zwangsläufig, wofür es sich denn überhaupt zu kämpfen lohnt, wenn man die Freiheit dann mit niemandem teilen kann. Und zum anderen ist es nicht nur Morgan, der dutzende oder auch hunderte Stunden in dieser Welt verbringt, sondern auch der Spieler selbst. Ein wenig Kontrastprogramm zu Mord und Totschlag hat schon Werken wie "The Witcher 3" oder der "Dragon Age"-Saga Lebenskraft eingehaucht.

Gewalt an Zivilisten, aber nicht an Kindern

In diesem Fokus auf die ernsteren Aspekte des virtuellen Outlaw-Lebens zeigt sich Rockstars Abkehr von der in "Grand Theft Auto" zelebrierten Satire. Witz und ungefährliche Freuden werden auf Nebenschauplätze, in heitere Gespräche und in Zufallsbegegnungen ausgelagert – von den Mutproben eines Bruderpaars, dem man Bierflaschen vom Kopf schießt, über die Attraktionen und Gags einer Theatervorstellung bis hin zu Ku-Klux-Klan-Mitgliedern, die man unter ihren eigenen Kreuzen begraben kann. Immer wieder blitzt der Wunsch der Entwickler durch, sich doch nicht ganz so ernst nehmen zu wollen.

Jedenfalls hat offensichtlich Rockstar damit gerungen, eine rote Linie zu ziehen. John Marston etwa, einer der engsten Freunde Morgans, hat einen kleinen Sohn, der eine essenzielle Rolle in der Geschichte einnimmt. Um jedoch PR-technisch womöglich prekäre Situationen zu vermeiden, hat der Hersteller wie auch in der "GTA"-Serie Kinder ansonsten aus dem Spiel genommen, um wohl Gewalt an Minderjährigen gar nicht erst zu ermöglichen. Andererseits geht man mit den restlichen computergesteuerten Zivilisten weniger zimperlich um. Unschuldige Passanten lassen sich fesseln, zusammenschlagen, erschießen oder Tieren zum Fraß vorwerfen.

"Westworld" für erzkonservative Waffennarren

Letzten Endes wirkt "RDR2"s Wilder Westen wie die erste Version eines dystopischen Themenparks, der sich zur Eröffnung in erster Linie an erzkonservative Waffennarren richtet. Ein "Westworld", in dem man jeden Host ausrauben, umnieten und in die Luft sprengen kann. Nur für Liebe, Sex und Zärtlichkeit geht man dann bitte wieder nach Hause. Eine Outlaw-Fantasie, die gar nicht so inspirierend ist, sich in der Realität jedoch damit rechtfertigen lässt, dass Ballern im Spiel und Schmusen im echten Leben mehr Spaß macht.

Gleichzeitig gehen aus der Widersprüchlichkeit der bislang zumindest oberflächlich realistischsten Spielwelt von Rockstar spannende Herausforderungen für künftige Open-World-Games hervor. Interessant zu sehen sein wird beispielsweise, welche Antworten etwa CD Projekt Reds nächstes großes Werk "Cyberpunk 2077" auf die Frage liefern wird, wo die Grenzen zwischen Spiel und Realität alternativ gezogen werden können. Und ob es diese überhaupt braucht. Ersten Ankündigungen zufolge dürfte "Cyberpunk 2077" zumindest Menschen noch als Wesen verstehen, die vielschichtigere Bedürfnisse haben, als nur mit Pistolen und Dynamit ums Überleben zu kämpfen. (Zsolt Wilhelm, 11.11.2018)