Was verbindet Julia Capulet, Hans-Dietrich Genscher und Papst Franziskus miteinander? Sie alle standen auf einem Balkon, als sie etwas zu verkünden hatten.
So wichtig der Balkon in der Historie ist, so bedeutend ist das bauliche Element, das sich mal mit Eleganz, mal mit unbeholfener Trotzigkeit an die Fassade hängt, in der Immobilienbranche. Während das Reclam-Wörterbuch der Architektur den Balkon nüchtern als "offenen Austritt an Gebäudeobergeschoßen, meist auf Deckenvorkragungen mit Brüstungsabschluss nach außen" umschreibt, haben Architektinnen und Immobilienentwickler längst einen größeren Deklinationskanon entwickelt.
Reise nach Caorle
Da gibt es punktuelle Anhängsel, organisch nach außen schwingende Wellen, dramatisch abgehängte Ingenieurskonstruktionen, technische und materielle Innovationen – und das Modell des gebäudeumwickelnden Balkonbands, das uns selbst im kalten Wien gedanklich nach Caorle reisen lässt. Hier lässt sich aktuell ein Trend ablesen, so viele Projekte purzeln auf den Markt.
Im Viertel Zwei hat die IC Development GmbH das Wohnprojekt Rondo errichtet. Architekt Thomas Pucher dröselte die 200 freifinanzierten Eigentumswohnungen auf sieben kompakte Pixelgebilde auf, die er anschließend mit organisch umlaufenden 360-Grad-Balkonen aus sandgestrahlten, unterschiedlich eingefärbten Betonfertigteilen umwickelte. Wie gestreifte Schwammerln stehen die Häuser zwischen WU-Campus, Trabrennbahn und Hauptallee.
"Das ist eine der tollsten Lagen in Wien", sagt Pucher. "Durch den umlaufenden Balkon schaffen wir differenzierte Freiräume mit richtungslosen Ausblicken ins Grüne. Zugleich können wir aufgrund der runden Form die Häuser dichter aneinanderrücken, ohne dass das Projekt dadurch eng oder allzu intim erscheint."
Näher zum Traum Einfamilienhaus
Doch warum so viel des Balkons? "Je mehr Terrasse, Loggia oder Balkon, desto näher fühlen sich die Käufer dem österreichischen Einfamilienhaustraum. Ein umlaufender Balkon ist ein guter, luxuriöser Imageträger."
Sabine Müller, Geschäftsführerin der IC, meint, ein großzügiger Freiraum sei im höherpreisigen Segment kaum noch wegzudenken. "Rundumlaufende Balkone sind eine Möglichkeit, diese wertvollen privaten Freiräume zu maximieren. Zugleich sind sie ein markanter Teil des architektonischen Konzepts. Dem Kunden ist Aussicht und privater Freiraum etwas wert."
Mehrwert für Bewohner
Auch im Mietsektor nimmt die Zahl der 360-Grad-Logen mit Blick auf die Stadt zu. Die WBV-GPA übergibt dieser Tage zwei Wohntürmchen mit 104 teils geförderten, teils freifinanzierten Mietwohnungen auf den ehemaligen Hoerbiger-Gründen in Wien-Simmering. Architekt Martin Kohlbauer umwickelte die beiden grünen und violetten Häuser mit umlaufenden Balkonen aus Aluminium-Rundwalzprofilen.
"Balkonfenstertüren und große Freiraumflächen kosten zwar mehr", erklärt er, "doch mit einer gewissen Menge und Standardisierung der Elemente kann man die Kosten im Zaum halten. Der Mehrwert für die Bewohner jedenfalls ist eklatant."
Funktionaler Mehrwert
Architekt Much Untertrifaller, der für den gemeinnützigen Bauträger Heimbau eine Anlage mit 118 Wohnungen in Hirschstetten errichtet, spricht sich für den funktionalen Mehrwert aus: "Die Wohnungen werden immer kleiner. Ein großer Balkon kompensiert die kleine Wohnfläche." Zugleich könne man mit einer Außenfläche, die anteilig mitgefördert wird, aber relativ günstig in der Errichtung ist, die Baukosten etwas verlagern und die Budgetziele und Förderrichtlinien erreichen.
Nicht zuletzt ist der umlaufende Balkon die neue Kreativspielwiese der Architekten: "Das Bauen wird immer teurer und immer rigoroser", so Untertrifaller. "Mehr als eine klassische Vollwärmeschutzfassade ist im geförderten Wohnbau kostenmäßig nicht mehr drin. Mit dem vorgelagerten Balkonband erobern wir nun die letzte noch verbleibende Gestaltungsfläche." (Wojciech Czaja, 9.11.2018)