1.11.: Akkreditierung, Sonderscreenings, Einladungen zu den Festen und sogar auf einen Kaffee mit der Viennale-Direktorin – ich kann es nicht verbergen, dass die Jurytätigkeit eine außergewöhnliche Erfahrung ist. Das Kennenlernen der scheinbar stets authentisch gut gelaunten Eva Sangiorgi ist ein wunderbar kurzweiliges Plaudern über Filmauswahl, Festivals und die Tücken der Programmierung (ist der Saal zu groß oder zu klein für den erwarteten Andrang?).

"Thunder Road" ist dann ebenso recht kurzweilig. Die ein bisschen komische, ein bisschen traurige und ein bisschen schräge Geschichte eines emotional überforderten Polizisten basiert auf einem gleichnamigen Kurzfilm, und der ist in seiner Prägnanz absolut sehenswert. Auf 92 Minuten ausgewalzt, wiederholen sich die langen Takes mit Fokus auf die ausufernden Tiraden des Protagonisten aber vielleicht einen Tick zu oft.

"Thunder Road", Jim Cummings.
Foto: Viennale

Später, in "Suspiria", stehe ich vor einem Rätsel. Was will Regisseur Luca Guadagnino mit dieser artifiziellen Mischung aus Nachkriegsdrama, Tanzshow, Giallo-Hommage, politischem Kommentar, Horror, Musikvideo von Thom Yorke und was weiß ich sonst noch eigentlich sagen? Die Idee, den trashigen Klassiker mit neuen Elementen aufzupeppen, klingt in der Theorie nicht ganz verkehrt, hätte man es doch nur geschafft, diese Ideen auch zu einem sinnvollen Ganzen zu verschmelzen. So bleibt mir der Sinn oder die Notwendigkeit mancher Handlungsstränge aber verborgen.

"Fotbal Infinit" und "Vox Lux"

2.11.: Bin ich übersättigt? Oder habe ich momentan einfach eine Reihe von Filmen auf dem Programm, die mir weniger gut gefallen? Auch "Fotbal Infinit" hat mich nicht überzeugt. Der Film hat einen guten "Schmäh", nämlich die Obsession seines Protagonisten: Er will das offizielle Fußballregelwerk reformieren und das Spiel dadurch attraktiver gestalten. Schlussendlich landet er aber bei einer komplizierten Variante mit mehr Problemen als Lösungen. Eine Allegorie auf die menschliche Suche nach Idealzuständen, die sich leider so schnell erschöpft, dass die 70 Minuten von "Fotbal Infinit" unendlich lang erscheinen.

Auch "Vox Lux" kommt mir elendig lang vor. Der Versuch, Popmusik und Terrorismus miteinander zu verbinden, klingt auf dem Papier unterhaltsamer, als es für mich am Ende dann ist. Natalie Portman spielt übertrieben hysterisch, manche Szenen ziehen sich übertrieben in die Länge, und für mich war der Film in seinen Ambitionen ebenfalls übertrieben konstruiert. Vorm Absturz rettet "Vox Lux" die überaus schräge Inszenierung, die wohl absichtlich nicht die Erwartungen erfüllt (ich habe am Ende noch auf eine Überraschung, Wendung oder Erleuchtung gewartet, die aber interessanterweise nicht kam).

"Vox Lux", Brady Corbet.
Foto: Viennale

"Sheherazade" und "Her Smell"

4.11.: Puh, diese Viennale ist eine regelrechte Achterbahnfahrt, denn nach einem kurzen "Tief" geht es mit "Sheherazade" wieder in künstlerische Höhen. Das Gangsterdrama in den Untiefen der Marseiller Klein- und Großkriminalität überzeugt mit glaubwürdigen Laiendarstellern und einer spannenden Handlung, die packend und gewalttätig am Spannungsbogen entlang eskaliert und trotzdem versöhnlich, aber ohne übertriebenen Kitsch endet.

"Her Smell" eskaliert auch, beziehungsweise man kann der famosen Elisabeth Moss beim Eskalieren zusehen. Das ist sehr sehenswert, da dem Film besonders auch die ruhigen Momente gut gelingen (was man in den ersten anderthalb Stunden nicht vermuten würde). Mitunter kann das Dauergezeter einer Girl-Group, die leider wie eine schlechte Blink-182-Coverband klingt, aber auch ermüden. Kurzum, ein zwiespältiges Erlebnis.

"Her Smell", Alex Ross Perry.
Foto: Viennale

Jurypreis an Minervini

8.11.: Die Entscheidung ist nach detaillierter Diskussion gefallen: Der STANDARD-Jurypreis geht an den neuen Minervini ("What You Gonna Do When the World's on Fire?"). Nach der Verleihung schließt sich die Klammer der Viennale. Was mit dem heiligen Lazzaro begonnen hat, endet im Abschlussfilm mit einem Serienmörder, der sich mit Engelsgesicht zu ebenjenem stilisiert. "El Angel" ist quasi das Porträt eines Psychopathen, gezeichnet in enorm kunstvollen und stilisierten Bildern. Mehr ist er zwar nicht, aber das reicht auch. Ein würdiger Abschluss einer tollen Viennale! Das Festival scheint bei Eva Sangiorgi in besten Händen. Somit: Danke an den STANDARD für die großartige Möglichkeit (bewerbt euch nächstes Jahr, es lohnt sich!) und Danke an die wunderbaren Jurykollegen. Fin. (Patrick Mittler, 9.11.2018)