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Beim Stillen geht es nicht nur um Nahrungsaufnahme – die Muttermilch enthält Stoffe, die die Entwicklung des Immunsystems initiieren.

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Das System Mensch ist ein in weiten Teilen unerforschtes Universum. Durch die neuen Einblicke in das Genom des Menschen wird aber zunehmend klarer, dass sich Gene im Laufe eines Lebens an- und wieder ausschalten können und bei der Betrachtung von Krankheiten oft der Blick auf die gesamte Lebensspanne entscheidend ist.

Wie wichtig es ist, dass Babys in den ersten Lebensmonaten gestillt werden, ist eine meist sehr emotional geführte Debatte. Bodo Melnik, Facharzt für Dermatologie, Allergologie und Umweltmedizin in Gütersloh, hat in erster Linie eine evolutionären Sichtweise auf das Thema. "Zwischen Mutter und Säugling findet über die Milch eine immunologische Programmierung statt", sagt er. Als Lehrbeauftragter der Universität Osnabrück erforscht er, wie genau dieser Austausch zwischen Mutter und Kind vor sich geht.

"Milk is just food"

In einem Punkt ist er ganz sicher: "Es findet viel mehr als nur eine Ernährung des Kindes statt." Wirklich falsch, da ist er sich sicher, war die von amerikanischen Kinderärzten in den 1930er-Jahren verbreitete Ansicht, "milk is just food", also Milch sei lediglich ein Nahrungsmittel. Mit dieser Ansicht konnte sich künstliches Milchpulver als Alternative zu Muttermilch überhaupt erst etablieren und bis heute halten, sagt Melnik.

Melnik, seit 1991 Lehrbeauftragter für Dermatologie, Umweltmedizin und Gesundheitstheorie, sieht den Exosomen in der Milch eine Schlüsselrolle zukommen. Die winzigen Partikel, nicht größer als Viren, wandern von der Mutter zum Kind. Diese Kapseln enthalten microRNA, die Genabschnitte an- und abschalten können. Konkret meint er den Enzymkomplex mTORC1 (mechanistic target of rapamycin complex 1). Milch liefert aber nicht nur die essenziellen Aminosäuren zur Aktivierung von mTORC1, sie stimuliert auch die Bildung der Wachstumshormone Insulin und IGF1, die eine wichtige Rolle bei der Ausbildung der Immunabwehr spielen.

Immunbiologische Software

Um zu verdeutlichen, was er meint, vergleicht Melnik die Muttermilch mit einem System, das biologische Hardware und Software in sich vereint. Muttermilch fördert nicht nur das sichtbare Wachstum, also die Gewichtszunahme, sondern programmiert sozusagen auch das Immunsystem, lässt sich also mit Software vergleichen. "Durch künstliches Milchpulver findet die mTORC1-Aktivierung nicht statt."

Für Melnik ist das eine Erklärung, warum zunehmend mehr Menschen in der industrialisierten Welt irgendwann im Laufe ihres späteren Lebens Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck oder Allergien entwickeln. Wenn Babynahrungshersteller ihre Produkte als "muttermilchnah" bezeichnen, so findet er diese Bezeichnung aufgrund der immunologischen Erkenntnisse der letzten Jahre falsch, wobei er aber durchaus einräumt, dass es außer der Muttermilch auch viele andere Lebensstilfaktoren gibt, die für die "westlichen Zivilisationserkrankungen" verantwortlich sind.

Eine Beobachtung, die diese These stützt, sieht Melnik zum Beispiel auch in der Tatsache, dass die Menschen, die zwischen 1963 und 1989 in der DDR lebten, statistisch betrachtet wesentlich weniger an Allergien leiden. Dort, erinnert Melnik, gab es keine künstliche Babynahrung, sondern Milchbanken, auf die Mütter zurückgreifen konnten. Frauen in westlichen Ländern hatten keinen Grund, der Werbung für Muttermilchersatzpulver zu misstrauen. Melnik kritisiert außerdem den massiven Kuhmilchkonsum, der ebenfalls zu Übergewicht und Allergie in der westlichen Welt beiträgt.

Darmflora der Mutter

Eine, die ebenfalls zum Thema Immunabwehr forscht, ist die Medizinerin Stephanie Ganal-Vonarburg von der Universität und dem Inselspital Bern. Sie konnte mit ihren Kollegen zeigen, dass Botenstoffe der Darmflora der Mutter bereits während der Schwangerschaft das Kind über die Plazenta erreichen.

Nach der Geburt finden diese Botenstoffe über die Muttermilch den Weg zum Baby. Dies trägt zur Reifung des Immunsystems der Neugeborenen bei, zum Beispiel indem es dieses auf die Besiedlung durch gute Bakterien vorbereitet.

Unser Körper ist Hort einer großen Wohngemeinschaft gutartiger Mikroben, Mikrobiom genannt. Wie groß der Einfluss des Mikrobioms auf unsere Gesundheit ist, wird seit mehreren Jahren intensiv erforscht. Es hilft nicht nur unserer Verdauung, sondern beeinflusst unter anderem auch das Immunsystem.

Neues vom Mikrobiom

Das Ungeborene im Mutterleib gilt in der Fruchtblase als komplett keimfrei, erst während und nach der Geburt kommt das Baby mit Mikroben in Kontakt und wird von diesen besiedelt. Ganal-Vonarburgs Arbeit zeige, dass der positive Einfluss des Mikrobioms jedoch nicht erst nach der Geburt beginnt, sondern bereits während der Schwangerschaft, schreiben Universität und Inselspital in der Mitteilung. Dieser Einfluss sei teils sogar bis ins Erwachsenenalter nachweisbar. Für ihre Forschung erhielt Ganal-Vonarburg nun den Johanna-Dürmüller-Bol-DBMR-Forschungspreis des Department for BioMedical Research (DBMR) der Uni Bern.

Das Preisgeld in Höhe von 30.000 Franken (26.170 Euro) will die Forscherin verwenden, um zu untersuchen, wie das mütterliche Mikrobiom das Immunsystem des Kindes längerfristig beeinflusst. Außerdem möchte sie bakterielle Stoffe in der Muttermilch identifizieren, die sich ebenfalls positiv auswirken. "Solche Stoffe könnten in der Zukunft in der Medizin eingesetzt werden und helfen, die Immunität von Neugeborenen zu stärken", so Ganal-Vonarburg. (Karin Pollack, 10.11.2018)