Vor langer Zeit auf einer abgelegenen Insel angekommen, die sie nun nicht mehr verlassen kann: Die Atlantisralle hat das Fliegen verlernt.
Foto: Peter G. Ryan

Inaccessible Island, also die unzugängliche Insel, ist der ebenso prosaische wie passende Name eines Mini-Eilands mitten im Nirgendwo. Es gehört zum kleinen Archipel Tristan da Cunha im Südatlantik, annähernd auf halber Strecke zwischen dem brasilianischen Porto Alegre und dem südafrikanischen Kapstadt, und macht etwaigen Gästen das Betreten durch steile Hänge schwer.

Just auf dieser abgelegenen Insel lebt ein Vogel, der nicht fliegen kann. Die Atlantisralle (Atlantisia rogersi) kann sogar den Rekord für sich verbuchen, der kleinste flugunfähige Vogel der Welt zu sein: 14 Zentimeter lang und gerade einmal 40 Gramm schwer, huschen die Rallen zu Fuß durchs Buschwerk wie andernorts Nagetiere, die es zu ihrem Glück auf Inaccessible Island nicht gibt. Würmer und Insekten stehen ebenso auf ihrem Speisezettel wie Samen und Beeren – Nahrungskonkurrenten hat die Atlantisralle in ihrer ökologischen Mini-Nische keine.

Die Fußgängerin aus Atlantis

Als der britische Forscher Percy Lowe die Ralle 1923 erstmals wissenschaftlich beschrieb, stellte er sich natürlich die Frage, wie ein flugunfähiger Vogel auf einem kaum 14 Quadratkilometer kleinen Stückchen Land mitten im Ozean enden konnte. Lowe, der eigentlich Mediziner war und die Ornithologie erst später für sich entdeckt hatte, konstatierte, dass die Flugunfähigkeit der Ralle eine sehr alte Eigenschaft sei.

Die Folgerung: Sie müsse zu Fuß eingetroffen sein – über eine Landbrücke, die später im Meer versank. Nur die mickrigen Reste von Tristan da Cunha seien von der einstigen Landmasse zurückgeblieben. In Erinnerung an das berühmteste aller versunkenen Länder gab er dem Vogel daher den Gattungsnamen Atlantisia.

Zweimal falsch getippt

Es war ein Irrtum auf allen Linien. Inaccessible Island ist eigentlich ein erloschener Vulkan, der sich vor drei bis sechs Millionen Jahren aus dem Meer erhoben hat, und war nie Teil einer größeren Landmasse. Und die Ralle dürfte auf ganz klassische Vogelart auf der Insel eingetroffen sein: durch die Luft. Das schließt der Biologe Martin Stervander aus DNA-Untersuchungen der Ralle, deren Ergebnisse nun im Fachjournal "Molecular Phylogenetics and Evolution" veröffentlicht wurden.

Nasa-Satellitenaufnahme von Inaccessible Island: Von hier aus sind es 3.600 Kilometer bis zur brasilianischen Küste und 2.800 bis zur südafrikanischen.
Foto: NASA

Stervander konnte feststellen, dass eine enge Verwandtschaft zwischen der Atlantisralle und einer in Südamerika verbreiteten Rallenart besteht – und die kann fliegen. Weitere Verwandte leben auf Jamaica und den Galapagos-Inseln. Die Erbgut-Analyse ergab, dass sich die Ahnen der Atlantisralle vor etwa 1,5 Millionen Jahren von ihren flugfähigen Cousinen getrennt haben. Der Schluss liegt nahe, dass sie damals selbst noch fliegen konnten und so eines Tages auch die Marathonstrecke nach Inaccessible Island bewältigten.

Landbrücke statt Kontinentalverschiebung

Zu Lowes Ehrenrettung muss gesagt werden, dass die Theorie der Kontinentalverschiebung damals noch nicht etabliert war, sondern im Schatten der Landbrücken-Theorie stand. Im 19. Jahrhundert hatte man längst Verwandtschaften zwischen Tier- und Pflanzenarten festgestellt, die auf heute getrennten Kontinenten leben. Ehemalige Landbrücken schienen die plausibelste Erklärung.

Einige davon – etwa Beringia zwischen Nordostasien und Nordamerika – gab es tatsächlich, wie man heute weiß. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden aber noch ganz andere für möglich gehalten, bis hin zur Größe von Kontinenten. Das nach Atlantis zweitberühmteste versunkene Land wäre der fiktive Kontinent Lemuria im Indischen Ozean. Mit ihm versuchte man sich zu erklären, dass die nächsten Verwandten der Lemuren Madagaskars in Süd- und Südostasien leben.

Noch ein Irrtum

Ironischerweise hat aber auch die eigentlich richtige Theorie der Kontinentalverschiebung für einen Irrtum bezüglich der Vogelwelt gesorgt. Die Laufvögel – Strauß, Emu & Co – als bekannteste Gruppe flugunfähiger Vögel sind nur auf den Kontinenten der Südhalbkugel plus den Inseln Neuseelands zu finden. Die logische Folgerung: Ihre Ahnen lebten auf dem südlichen Superkontinent Gondwana und trieben nach dessen Zerfall auf den Bruchstücken auseinander.

Doch auch hier haben inzwischen Genanalysen der schönen Hypothese in die Suppe gespuckt. Sie zeigten unter anderem, dass die ausgestorbenen Elefantenvögel Madagaskars nicht allzu eng mit dem Strauß aus dem nahen Afrika verwandt waren – dafür aber mit dem in maximaler Entfernung lebenden Kiwi Neuseelands. Auch die Ahnen der Laufvögel müssen sich also im Flug über die Südhalbkugel verteilt haben und sind erst danach zu Fußgängern geworden.

Wenn's nicht unbedingt sein muss ...

Der Grund dafür, dass so viele verschiedene Vogelarten völlig unabhängig voneinander das Fliegen aufgegeben haben, liegt darin, dass Fliegen entsetzlich energieaufwändig ist. Und das Haushalten mit der verfügbaren Energie stellt einen der entscheidenden Faktoren der Evolution dar. Sobald es nicht mehr nötig ist – wenn genug Nahrung vorhanden ist und vor allem keine Feinde vor Ort sind –, lassen Vögel also die Fähigkeit, der sie ursprünglich ihren evolutionären Erfolg verdankten, sausen.

Einige Vogelgruppen scheinen dafür genetisch sogar besonders prädisponiert zu sein. Unter den zahlreichen flugunfähigen Vogelarten, die es gibt oder gab, waren Hühner- und Gänsevögel besonders häufig vertreten – und Rallen ebenso. Bei einer ganzen Reihe Spezies ging dies mit Riesenwuchs einher, doch das muss der Lebensraum hergeben. Die paar Quadratkilometer von Inaccessible Island bieten keine monströsen Ressourcen, und so nahm die Atlantisralle die ökologische Rolle einer Maus ein.

Die "gefiederte Maus" von Inaccessible Island hätte den felltragenden nichts entgegenzusetzen.
Foto: Brian Gratwicke

Mäuse und Ratten sind zugleich das, was von der seit 2004 zum UNESCO-Welterbe zählenden Insel, die immerhin 5.600 Atlantisrallen Platz bietet, um jeden Preis ferngehalten werden muss. Sonst ist es mit der Ralle vorbei – vom Menschen eingeschleppte Nagetier-Invasoren haben schon auf anderen Inseln ganze Vogelarten ausgerottet.

Stervander ist es ein bisschen peinlich, dass durch seine Studie der schöne Name Atlantisia aus den Zoologiebüchern gestrichen werden muss. In der Taxonomie gilt stets das Prinzip, dass die historisch ältere Bezeichnung Gültigkeit hat. Und nachdem der Forscher die Verwandtschaftsbeziehungen der Ralle nach Südamerika geklärt hat, muss dem Vogel der Gattungsname der dortigen Rallen zugeteilt werden, aus Atlantisia rogersi wird damit Laterallus rogersi. Wesentlich wichtiger ist für Stervander aber, dass nach dem Namen nicht auch noch das Tier selbst ausstirbt. (jdo, 12.11.2018)