Jörg Haider sprach gegen Ende der achtziger Jahre einmal von der "österreichischen Nation" als "ideologischer Missgeburt", ein halbes Dutzend Jahre später forderte er dann "Schluss mit der Deutschtümelei". Was er wohl heute sagen würde? Denn Aufmerksamkeit zu erregen fällt immer schwerer – gerade inmitten der Twitter-Gesellschaft, wo diverse Plappermäulchen jede Menge Ein-Tages-Skandälchen frei Haus liefern.

Haider bezog sich damals auf die "Erfindung" der Idee von den Österreichern als eigene Nation durch kommunistische Funktionäre in den dreißiger Jahren. Er hätte sich's auch leichter machen und einfach die Antwort der Revolutionären Sozialisten zitieren können, die 1937 urteilten, dabei handle es sich um eine "schwer zu übertreffende Zusammenstellung theoretischen Unsinns". Denn auch die Gegner des Anschlusses zweifelten nicht an der Zugehörigkeit zur deutschen Nation. Ignaz Seipel pflegte nur leicht naserümpfend hinzuzufügen, wer Staat und Nation unbedingt gleichsetzen wolle, hänge einem "westlerischen" – und somit "undeutschen" – Begriff an.

Grau ist alle Theorie. Man kann den Begriff "Nation" eben jeweils so definieren, dass das gewünschte Ergebnis dabei herauskommt. Ich gebe zu, die einschlägigen Debatten haben mir als jungem Historiker noch Spaß gemacht. Viele Vertreter der Kriegsgeneration, auch abseits der FPÖ – von Otto Schulmeister bis zu einem ehemaligen Unterrichtsminister der ÖVP -, gaben Haider da weitgehend recht. Rückblickend freilich beschleicht mich der Verdacht, dass bei einem breiteren Publikum auch damals schon nur mehr verkürzt wahrgenommen wurde: Haider habe Österreich als solches als Missgeburt bezeichnet.

Genialer Populist

Gerade Haider als genialer Populist wollte von der Frage "Nation oder nicht?" wegkommen, weil sie eine akademische war, mit endlosen bewussten Missverständnissen, zum scholastischen Ritual bei Zeitgeschichtetagen verkommen. Ob man es jetzt als Nationalgefühl bezeichnete oder nicht, das österreichische Selbstbewusstsein hatte stetig zugenommen, bis in den 1990ern plötzlich die Wirtschaft mit der Notwendigkeit des EU-Beitritts daherkam, völlig zu Recht, aber eben mit Argumenten, die vielfach verdächtig an die These von der Lebensunfähigkeit des Kleinstaats erinnerten.

Seither ist eine kuriose Schubumkehr zu beobachten: Die langjährigen Verfechter Österreichs mit dem langen Ö sind dem Diphthong EU anheimgefallen, die Gralshüter der deutschnationalen Tradition dem "Österreich zuerst". Die ehemaligen Anhänger des Naumann'schen Mitteleuropa (ich nehme mich da keineswegs aus) schwärmen heute viel lieber von Visegrád, während Robert Menasse – wenn ich mich recht erinnere – schon um 2000 einmal geschrieben hat, eigentlich müsse man heute für den Anschluss sein, um dem "Austrofaschismus" zu entkommen.

Der Normalverbraucher wird sich vielleicht wundern, warum er plötzlich als halber Nazi betrachtet wird, wenn er "Österreich über alles" intoniert, während ihm jahrzehntelang eingeredet wurde, genau das müsse er tun, um eben nicht als Nazi zu gelten. Aber nachdem "Nazi" ein so populäres, allgegenwärtiges Schimpfwort geworden ist (nur "Kulturschaffende" verfallen da auf noch auf drastischere Formeln), wird sie das auch nicht allzu sehr bekümmern. Man kann's denen da oben eben nie recht machen. (Lothar Höbelt, 9.11.2018)