Hilary Mantel: "Mein Leben ähnelt in keiner Weise der Französischen Revolution."

Foto: Els Zweerink

Dank der Gratisbuchaktion der Stadt Wien verschlug es die zweifache Booker-Preis-Gewinnerin Hilary Mantel in das feudale Hotel Imperial, wo sie mit unnachahmlicher Höflichkeit Rede und Antwort saß. Mantels Romanerstling Jeder Tag ist Muttertag (1985) ist eine beeindruckende, sozial-realistische "Gothic Novel". Ihre weltweit gefeierte Trilogie über Thomas Cromwell und das Tudor-England bringt sie demnächst zum Abschluss: "Das Kürzen fällt mir durchaus schwer."

STANDARD: Wie sehr freut es Sie, dass Ihr Romanerstling als Gratisbuch den Weg zu den Wienern gefunden hat?

Mantel: Es ist eine wunderbare, generöse Geste. Ich habe soeben einen Vormittag in einer Wiener Schule verbracht und bekam es dort mit quicklebendigen Siebzehnjährigen zu tun. Die waren auch nicht im Geringsten schüchtern.

STANDARD: Hatten die schon einen Begriff von Ihrem Werk?

Mantel: Ihre Lehrer hatten sie gut vorbereitet, ich durfte einige sehr kluge Fragen beantworten. Es lässt sich kaum ausdrücken, wie wichtig es ist, eine neue Generation von Lesern heranzuziehen. Nur so ermuntert man Menschen zur Aufgeschlossenheit.

STANDARD: Warum stehen so viele Briten auf Kriegsfuß mit dem Gedanken, Mitglied der Europäischen Union zu sein?

Mantel: Es geht ein wirklicher Riss durch das ganze Land. Der trennt die Menschen geografisch und sozial. Genauso ist auch die Bildung höchst ungleich verteilt. Ich lebe an der englischen Küste, in East Devon, in einem total abgelegenen Dorf. Die Gegend ist arm. Als das Referendum abgehalten wurde, verstanden die Menschen kaum die Zusammenhänge.

STANDARD: Es wurde mit Informationen gegeizt?

Mantel: Die Kampagne war unehrlich. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, wie widersprüchlich moderne Gesellschaften funktionieren. Die Menschen sind unzufrieden, aber sie wissen nicht, wen sie für Missstände in ihrem Alltagsleben verantwortlich machen sollen. Die lokal zuständigen Behörden? Die britische Regierung? Was für einen einfachen Ausweg bietet da die Möglichkeit, "Brüssel" zu sagen.

STANDARD: Brüssel als Blitzableiter?

Mantel: Liebend gerne bürden wir allen Verdruss irgendeiner externen Macht auf. In meiner kleinen Weltgegend leben Menschen, die noch nicht einmal in London waren. Sie sind, wenn sie sich einen Begriff von der Welt machen, auf Vorstellungen angewiesen, und die reichen gegebenenfalls bis nach Brüssel. Die Leute tappen im Dunkeln, sobald sie versuchen, sich über Zuständigkeiten im Klaren zu werden. Es fällt ihnen auch schwer, die unterschiedlichen Ebenen der politischen Entscheidungsfindung aufeinander zu beziehen.

STANDARD: Es geht darum, Schuldige auszumachen?

Mantel: Die Menschen sehen die Ströme von Migranten und können sich keinen Reim darauf machen. Der Brexit war keine Entscheidung, die auf hinreichender Information beruht hat. Aber es ist auch eine typisch politische Vorgehensweise, etwas so Kompliziertes wie die Frage nach der EU-Mitgliedschaft in ein simples Ja und Nein aufzuteilen. Als ob sich dergleichen an einem einzigen Tag, aus dem Bauch heraus, entscheiden ließe.

STANDARD: Ihr Romanerstling "Jeder Tag ist Muttertag" vereint die Sensibilität für das Übersinnliche mit der Beschreibung des Niedergangs des Empire, konzentriert auf Nordengland in den frühen 1970er-Jahren. Ist dieses Buch ein Favorit von Ihnen?

Mantel: Es war geradezu befremdlich, sich das Buch nach all den Jahren wieder einmal vorzunehmen. Es spiegelt in der Tat ein bestimmtes Milieu wider, indem ich etwa die Mühsal der Sozialarbeit beschreibe. Es besitzt aber genauso eine zeitlose Dimension. Ich würde Letztere als einen mythologischen Erlebnisraum ansehen. Eine Mutter ist ihrem Kind auf äußerst destruktive Weise verbunden: Das funktioniert noch immer ganz gut. Würde ich ein solches Buch freilich heute schreiben, es fiele sehr viel simpler aus. Wie in so vielen Romanen gibt es furchterregend viel Handlung. Auch die Sprache ist bisweilen hochkompliziert.

STANDARD: Sie meinen: hochtrabend?

Mantel: Mit wachsendem Zutrauen in die eigenen Fertigkeiten sollte man zur Entschiedenheit finden, Dinge einfach wegzulassen. Man fasst mehr Zutrauen zum Leser. Es ist immer mit hohem Risiko verbunden, ein eigenes, vor langer Zeit abgeschlossenes Buch wieder aufzuschlagen. Im vorliegenden Fall kann ich sagen: Ich hasse Jeder Tag ist Muttertag nicht einmal!

STANDARD: Gleicht der Romanerstling der ersten Sprosse in einer Leiter?

Mantel: In meinem Fall trifft das nicht wirklich zu. Das erste Buch, das ich schrieb, handelte von der Französischen Revolution. Es war allerdings aussichtslos, in den 1980er-Jahre irgendjemanden für historische Romane zu interessieren. Kam man auf dieses Genre zu sprechen, dachten sofort alle an Liebesstürme, an Zeiten voller Zärtlichkeit und Leidenschaft. Ich musste also warten, bis meine Zeit gekommen war. Es führte kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Etwas Kürzeres musste her, etwas annähernd Zeitgenössisches. Und so begann ich, in meiner Erinnerung nach Stoffen zu graben. Es heißt ja immer, jeder Romanerstling sei autobiografisch. Nun gibt es praktisch nichts, was weniger Ähnlichkeit mit der Französischen Revolution aufweist als mein Leben. Aber für mich begann eine Zeit der Gewissenserforschung. (Ronald Pohl, 12.11.2018)