Oliver Rathkolb verlas die Rede Eric Kandels, der krankheitsbedingt nicht persönlich erscheinen konnte.

Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Dieses Museum spürt der Geschichte Österreichs über die vergangenen 100 Jahre nach. Angesichts dieser Geschichte finde ich es bemerkenswert und erhebend, dass es exakt im selben Jahr eröffnet wird, in dem sich der "Anschluss" zum 80. Mal jährt. Noch dazu an derselben Stelle, an der Hitler triumphal einzog und von der österreichischen Bevölkerung begrüßt wurde. Der freundliche Empfang der Nazi-Ideologie durch Österreich wurde bis vor kurzem nicht zugegeben und war für mich persönlich ein Grund für meine ambivalente Haltung gegenüber Österreich.

Die Eröffnung des Museums der österreichischen Geschichte, vor allem dessen Lage am Heldenplatz, ist ein sehr persönliches Ereignis für mich. Ich bin Jude und am 7. November 1929 in Wien geboren. Ich war acht Jahre alt, als Hitler auf dem Heldenplatz einmarschierte. Hitler stand auf dem Balkon jenes Gebäudes, das nun Museum ist, und verkündete am 15. März 1938 den "Anschluss" vor 200.000 hysterisch applaudierenden Österreichern. Darum sollte der Balkon, als extrem wichtiger Ort, zugänglich und in das Museum eingeschlossen werden.

Vater und die Zahnbürste

Nur Tage nach dem "Anschluss" änderte sich das Leben der Juden in Wien dramatisch. Ich kann mich lebhaft daran erinnern, wie mein Vater dazu gezwungen wurde, die Straße vor seinem Geschäft mit einer Zahnbürste zu putzen. Und wie der Vater meines besten Freundes Kurt ihm sagte, er dürfe nie wieder mit mir reden. Binnen eines Jahres flohen mein Bruder und ich ohne unsere Eltern in die USA. Meine Eltern folgten uns sechs Monate später.

Warum erinnere ich mich so lebhaft an diese Ereignisse? Meine Arbeit als Neurobiologe gibt einige Antworten darauf. Erinnert eine Person etwas für lange Zeit, dann deshalb, weil sich tiefgreifende Veränderungen in ihrem Gehirn ereignet haben. Es ist überraschend für die Menschen, wenn sie erfahren, dass das Gedächtnis durch das Wachstum neuer Synapsen gebildet wird. Traumatische Ereignisse erzeugen außergewöhnlich signifikante Veränderungen im Gehirn. Darum erinnern wir uns derart gut daran. Nachdem Sie die Redner heute gehört und sich an ihre Worte erinnert haben, wird Ihr Kopf ein anderer sein. Das wird andauern, wenn Sie die wunderbare Ausstellung dieses Museums besuchen.

Zu einem anderen Thema: dem Status der jüdischen Bevölkerung in Wien heute. Ich erinnere mich an ein Buch von Hugo Bettauer, einem Journalisten, der als jugendlicher Jude zum Protestantismus konvertierte. 1922 schrieb Bettauer ein Werk mit dem Titel "Die Stadt ohne Juden". Es beschreibt ein Wien der Zukunft, das unter Druck der Stadtpolitiker versucht, alle jüdischen Bürger auszuweisen. Das hat zur Folge, dass die Wirtschaft der Stadt zusammenbricht und sich deren soziales Leben verschlechtert. Jeder in der Stadt beklagt sich darüber. Die Besucherzahlen der Oper fallen, die Umsätze in den eleganten Geschäften schrumpfen. Die Wiener Mädel schmachten ihren jüdischen Freunden nach, die sich immer gut benommen, nie zu viel getrunken und sie mit Geschenken überhäuft haben. Schließlich müssen die verzweifelten Stadtväter die Juden darum anflehen, zurückzukommen.

1925 betrat ein Mann namens Otto Rothstock Bettauers Büro und erschoss ihn. Er handelte offenbar aus eigenem Antrieb, war aber Mitglied bei den Nazis. Und diese sprangen ihm auch zur Verteidigung bei.

Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Zahl der Juden in Deutschland, Österreich und dem Rest Europas stetig gefallen – von 9,4 Millionen 1939 auf 1,4 Millionen 2010. Im Jahr 1939 lebten 50 Prozent der Juden weltweit in Europa, 2010 waren es nur noch zehn Prozent.

Vorbildliche Deutsche

Einer der Gründe für das Schrumpfen der jüdischen Bevölkerung Europas ist die Existenz Israels, das offensichtlich sehr attraktiv für Juden ist. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen Deutschland und Österreich. Deutschland hat bewusst versucht, Juden nach dem Krieg zurückzuholen und die jüdische Gemeinde wiederaufzubauen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war die jüdische Gemeinde in Deutschland die einzige in Europa, die wuchs.

In Österreich ist die Situation deutlich anders. 1933 lebten 191.000 Juden in Österreich – 2,8 Prozent der Bevölkerung, im Verhältnis viermal mehr als in Deutschland. Nach der Besetzung durch die Nazis emigrierten die meisten Juden, oder sie wurden im Holocaust ermordet. 2010 bestand die jüdische Bevölkerung Österreichs offiziell aus 9000 Menschen. Sie sank also von 2,8 Prozent Bevölkerungsanteil auf 0,1 Prozent. In Deutschland hat die jüdische Bevölkerung inzwischen wieder 18,7 Prozent ihrer Größe von 1933 erreicht. In Österreich sind es bloß 3,4 Prozent.

Der Kontrast ist bestürzend. Während Westdeutschlands kleine jüdische Bevölkerung wächst, schrumpft die noch kleinere in Österreich. Ich bin fest davon überzeugt, dass Strategien umgesetzt werden müssen, Juden nach Österreich zu bringen oder jene hierzuhalten, die gekommen sind, um zu studieren, aber nicht bleiben können, wie die Absolventen der Lauder Business School.

Der ermutigendste Wandel, der in Österreich festzustellen ist, ist das Zurückdrängen des Antisemitismus. Seit Mitte der 1980er-Jahre geht die Regierung dagegen vor. Sie gab einen Film über das Konzentrationslager Mauthausen und ein Schulbuch über jüdische Geschichte in Auftrag. Von 1982 bis 1986 hat die Regierung fünf Organisationen aufgelöst und 30 Veranstaltungen verboten, von denen angenommen wurde, sie verbreiteten Pro-Nazi-Töne. Wien hat sogar einen kleinen Park nach Sigmund Freud benannt. Und 2012 wurde der Dr.-Karl-Lueger-Ring in Universitätsring umbenannt. Ich bin stolz, dass ich eine Rolle dabei gespielt habe.

Um die Wichtigkeit der Erinnerung zu unterstreichen, wurden Stolpersteine auf den Gehwegen vor jenen Häusern eingelassen, in denen einst Juden lebten. Eine Plakette wurde auch vor der Severingasse 8 platziert. Sie erinnert die Passanten daran, dass hier Hermann, Charlotte, Ludwig und Erich Kandel lebten, die einst fliehe mussten. Im April habe ich an einer sehr berührenden Zeremonie teilgenommen, bei der die Plakette enthüllt wurde. Viele Menschen, Juden und Nichtjuden, haben bei diesem Akt der Erinnerung mitgefeiert.

Chance für Österreich

Dieses Museum eröffnet Österreich eine wichtige Gelegenheit, sich seiner dunklen Geschichte zu stellen. Will das Museum eine ehrliche Institution sein, muss es explizit und tiefgehend die Geschichte des Antisemitismus beleuchten, die Österreich befleckt. Und ja, das Museum scheut diesen Teil der österreichischen Vergangenheit nicht. Nur durch die offene Konfrontation mit den problematischen Aspekten seiner Geschichte kann Österreich hoffen, ähnliche Episoden in der Zukunft zu vermeiden. Hoffen wir, dass die Österreicher das Jüdische nicht nur als historische Kultur im Museum sehen, sondern als lebendigen Teil ihrer Gesellschaft.

Ich komme sehr gerne nach Wien zurück. Ich erfreue mich an der Kust, der Schönheit der Stadt und an den vielen Freunden, die ich im Laufe der Jahre gefunden habe. Meine Gefühle haben sich von Bitterkeit, Zorn und Misstrauen zu Versöhnlichkeit und Akzeptanz gewandelt. (Eric Kandel, 11.11.2018)