Am 15. März 1933 wurde das österreichische Parlament von bewaffneten Polizisten umstellt, der Zutritt unter Gewaltandrohung verboten. Weitere Beamte zwangen die im Nationalratssitzungssaal versammelten Abgeordneten, das Gebäude zu verlassen. Den Befehl dazu hatte Engelbert Dollfuß gegeben. Einige Monate später, am 11. September, würde Dollfuß die Ereignisse bei einer Massenveranstaltung der neu gegründeten "Vaterländischen Front" zum zentralen Moment der Umgestaltung Österreichs zur Diktatur erklären: "Dieses Parlament, eine solche Volksvertretung, eine solche Führung unseres Volkes, wird und darf nie wieder kommen. […] wir wollen den sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker, autoritärer Führung!“ Auch der propagandistische, auf die Geschäftsordnungskrise vom 4. März gemünzte Begriff von der "Selbstausschaltung des Parlaments" wurde durch diese sogenannte "Trabrennplatzrede" populär.

Noch im selben Jahr brachte die christlich-soziale Regierung auch die übrigen Säulen des demokratischen Rechtsstaats zum Einsturz: Die Opposition wurde ebenso verboten wie Versammlungen und Streiks. Die Pressefreiheit wurde aufgehoben und das Standrecht verhängt. Auch der Verfassungsgerichtshof wurde ausgeschaltet, ehe er gegen den durch illegale Maßnahmen vorgenommenen Sturz der Demokratie vorgehen konnte.

Engelbert Dollfuß spricht vor der Vaterländischen Front auf dem Wiener Trabrennplatz.
Foto: ÖNB

Faschistische Ideologie

Wenngleich sich die Ereignisse im Jahr 1933 zu überschlagen schienen – überraschend waren sie keineswegs gekommen. Seit 1929 hatten sich innerhalb der Heimwehren, die neben einer paramilitärischen Organisation auch eine radikale politische Splittergruppe innerhalb des Regierungslagers darstellte, verstärkt faschistische Tendenzen gezeigt. So leisteten die niederösterreichischen Heimwehren – an ihrer Spitze der spätere Bundeskanzler Julius Raab – am 18. Mai 1930 den sogenannten Korneuburger Eid, in dem sie den Umsturz der parlamentarischen Verfassung gelobten: "Wir wollen nach der Macht im Staate greifen und zum Wohl des gesamten Volkes Staat und Wirtschaft neu ordnen. […] Wir verwerfen den westlichen demokratischen Parlamentarismus […]" und "Jeder Kamerad fühle und bekenne sich als Träger der neuen deutschen Staatsgesinnung, er sei bereit Gut und Blut einzusetzen, er kenne drei Gewalten: den Gottglauben, seinen eigenen harten Willen und das Wort seiner Führer", heißt es darin unter anderem.

Dass der "Staatsvertragskanzler" Julius Raab geschworen hatte, sein Blut für den Umsturz der Demokratie einzusetzen und ebenso wie andere prominente Politiker der Nachkriegsjahrzehnte, etwa Leopold Figl, hochrangiger Funktionär eines antidemokratischen Regimes gewesen war, ist eine Tatsache, die zum Gedenken an 100 Jahre Republiksgeschichte kaum erwähnt wird. Es ist bezeichnend, dass selbst der sozialdemokratische Altbundespräsident Heinz Fischer die Jahre des Austrofaschismus als "antiparlamentarische Strömungen" verharmloste. Wie schon Erwin Ringel sagte: "Bei uns werden seit langer Zeit alle Konflikte unter der Devise 'Wir werden keinen Richter brauchen' unter den Teppich gekehrt."  

Revisionismus als Staatsräson

Die partielle Geschichtsblindheit wurde in der zweiten Republik zur Staatsräson. Die alten Konflikte durften unter keinen Umständen wieder aufbrechen – das zwischen den Lagern aufgeteilte Land wäre unregierbar geworden. An die Stelle der Erinnerung an zweierlei Faschismus setzte man den Mythos vom "Geist der Lagerstraße". Schließlich hatten sowohl christlich-soziale, wie auch sozialdemokratische Politiker im NS-Regime, Verfolgung, Vertreibung und (KZ-)Haft erlebt. Die Erinnerung an den einen Faschismus wurde durch den anderen, noch weitaus schlimmeren, überlagert.

Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass auch der "Ständestaat" faschistisch war. In der historischen Forschung lassen sich eine Vielzahl an Faschismusdefinitionen ausmachen, die oft je nach Intention des Urhebers mal breiter, mal enger gefasst sind. Gemein sind ihnen in der Regel aber folgende Kriterien: Ein stark ausgeprägter Führerkult, Nationalismus, eine Massenorganisation, Militarismus, Antiparlamentarismus, fehlende Rechtsstaatlichkeit und Verfolgung der politischen Gegner sowie eine totalitäre Ideologie. All diese Kriterien lassen sich auch auf den "Ständestaat" anwenden.

Die Vaterländische Front in Wien 1936.
Foto: Public Domain

Schmalspurfaschismus?

Zur Verteidigung des Austrofaschismus wird oft ins Feld geführt, dass er zumindest nicht rassistisch gewesen sei, oder jedenfalls weniger rassistisch als der Nationalsozialismus. Dies ist aber kein stichhaltiges Argument. Immerhin waren der spanische und der italienische Faschismus auch weniger rassistisch als der deutsche. Daran, dass beide politischen Systeme faschistisch waren, wird aber deutlich weniger gezweifelt als an dem faschistischen Wesen des Dollfuß-Schuschnigg-Systems. Mit der Vaterländischen Front hatte das austrofaschistische Regime seine eigene Massenbewegung, mit Dollfuß ihren verehrten Führer – die Liste ließe sich für alle zuvor genannten Punkte fortsetzen.  

Anders als noch zu Beginn des neuen Jahrtausends wird in der aktuellen Debatte rund um das 100-Jahr-Jubiläum der Republik Österreich der Begriff "Austrofaschismus" kaum noch verwendet. Während Emmerich Tálos in seinen Standwerken zu dem Thema klar und schlüssig argumentiert, warum der Austrofaschismus als solcher bezeichnet werden kann und es sogar muss, weichen zu viele unserer Kolleginnen und Kollegen gegenwärtig auf Umschreibungen aus, die unverbindlicher scheinen. Gerade die Geschichtswissenschaft schuldet der Gesellschaft aber einen unverstellten Blick auf die Geschichte. Auch wenn das manchmal schmerzlich ist. (Martin Tschiggerl, Thomas Walach, 16.11.2018)

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