Stellen Sie sich vor, Sie führen einen Prozess und tun dabei nichts anderes als für Ihre Interessen einzutreten, so wie das Ihnen in einem Rechtsstaat zusteht. Dennoch kommt dem Gerichtsgutachter Ihr Engagement auffällig vor – und aufgrund der bloßen Tatsache, dass Sie sich so vehement und hartnäckig für Ihr Recht einsetzen, schreibt er in seinen Befund "Begehrensneurose".

Fortan sind Sie für das Gericht nicht mehr einfach jemand, der um sein gutes Recht kämpft – nein, Sie tun es aufgrund Ihrer "Begehrensneurose". Dies trägt eventuell dazu bei, dass der Fall ungünstig für Sie abgeschlossen wird.

Die Allmacht der Gutachter

Klingt absurd, oder? Was wie eine Stelle aus den wahnwitzigsten Passagen in Kafkas Werk klingt, ist jedoch wahrhaftig Alltag an Österreichs Gerichten. Eine zwielichtige, taktangebende Rolle spielen dabei die Gutachter. Oft schon, bevor es überhaupt zu einer Verhandlung kommt.

Nehmen wir etwa – einer aus einer Unzahl von Fällen, die wir herausgreifen könnten – Paul Schulz*, der Opfer eines Verkehrsunfalls war. Die Haftpflichtversicherung des Verursachers, die natürlich ungern zahlen will, lädt ihn zu ihren Sachverständigen. Nicht nur zu einem Unfallchirurgen, sondern, da es um ein „Peitschenschlagsyndrom“ (Halswirbelsäulenzerrung) geht, auch zu einem Psychiater und Neurologen.

Ohne irgendwelche Belege für seine Behauptung vorzuweisen (in seinem Raum verfügt er noch nicht einmal über die für eine solche Untersuchung notwendigen Geräte), macht dieser für die Beschwerden von Paul Schulz nicht den Unfall verantwortlich, sondern eine – man muss sich die Unwissenschaftlichkeit solcher Formulierungen auf der Zunge zergehen lassen, die nichtsdestoweniger nie ihre Wirkung auf das Gericht verfehlen, da sie doch von einem Experten kommen – eine "schicksalshafte systemische Muskelerkrankung".

Diese Behauptung kombiniert er vorsorglich – obwohl das die ihm gestellte Aufgabe (nämlich die Unfallfolgen zu diagnostizieren) bei weitem überschreitet – mit einigen warnenden Worten zur Persönlichkeitsstruktur des Geschädigten. Aufgrund dessen Tendenzen zur Beharrlichkeit müsse man davon ausgehen, "dass zukünftig sich aus der genannten Konstellation eine Begehrenshaltung entwickelt."

Psychiatrische Diagnosen als Form des "sozialen Tötens"

Die Folgen solcher Psycho-Diagnosen kann man gar nicht überschätzen. Im Zuge oft jahre-, manchmal sogar jahrzehntelang anhängiger Gerichtsverfahren werden die Betroffenen in der Regel genauso lang von Gutachter zu Gutachter weitergereicht. Wird einem aber dabei von irgendeinem Gutachter einmal eine "Neurose" oder "Depression" attestiert, dann ist es aus. Fortan trägt man diesen Stempel und wird ihn nicht mehr los.

Spätere Gutachter werden immer wieder darauf zurückgreifen. Die Gerichte werden sich nur mehr darauf konzentrieren, das auswalzen, und alles andere wird allmählich unter den Tisch fallen. Der Betroffene wird bloß noch unter diesem Gesichtspunkt wahrgenommen werden. Sein Anliegen wird nicht mehr ernstgenommen, darum wird es gar nicht mehr gehen. Alles wird nun von seiner angeblichen psychischen Erkrankung her erklärt. Die Stimme ist ihm geraubt worden.

Der in Österreich viel zu wenig bekannte Psychiatrie-Kritiker Gert Postel – der in Deutschland eine Welle der Gutachter-Skepsis ausgelöst hat, indem er sich selbst als Psychiater verkleidet in das System eingeschlichen und dann das Erlebte publik gemacht hat – spricht in diesem Zusammenhang vom sozialen Töten.

Wie der international namhaft gewordene Fall Gustl Mollath belegt, kann dies sogar so weit gehen, dass man auch als psychisch Gesunder für Jahre zwangsweise hinter den Mauern einer geschlossenen Anstalt verschwindet, nur deswegen, weil das Gericht einem nicht glauben will und die Psychiater dementsprechend ihre Gutachten verfassen. Mollath wurden von der bayrischen Justiz "paranoide Wahnvorstellungen" und ein – man höre und staune ob des Erfindungsreichtums der psychiatrischen Diagnostik – "Schwarzgeldkomplex" attestiert, als er wahrheitsgemäß von den betrügerischen Aktivitäten seiner Frau Mitteilung machte.

Wie viele Mollaths sitzen aber noch in den Anstalten, die, anders als er, nicht zufällig freigekommen sind?

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Was spricht mehr gegen einen Rechtstaat als Bürger, die ihm so wenig trauen?
Foto: Getty Images/iStockphoto/AndreyPopov

Verflechtung von Gutachtern und Versicherungen

Oder wir könnten auch auf den Fall von Waltraud Kanetscheider hinweisen, der im "Schwarzbuch Versicherungen" von Franz Fluch ausführlich dokumentiert ist. Mit einer Ausnahme, die ausdrücklich vermerkt ist, stammen auch die übrigen folgenden Beispiele aus diesem Buch:

Die kafkaesken Aspekte steigern sich hier so weit, dass der vom Gericht beigezogene Sachverständige in seinem Gutachten fortwährend suggeriert, dass er das Unfallopfer Waltraud Kanetscheider persönlich untersucht hätte, dabei aber vollkommen unter den Tisch fallen lässt, dass er sie während der Verhandlung zum ersten Mal gesehen hat. Das stört jedoch die von seinem fachlichen Können beeindruckte Richterin ebenso wenig wie die Tatsache, dass er bei diesem sogenannten "Aktengutachten" alle Befunde, die die schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Betroffenen belegen, vollkommen ignoriert.

Ganz spontan schüttelt er vor Gericht auch gleich eine der Versicherung günstige Psycho-Diagnose aus dem Ärmel: Die Klägerin, heißt es in seinem Gutachten, lege ein "funktionell-demonstratives Gehabe" an den Tag und gebe ein "hochgradig konversionsneurotisches Bild" ab.

Noch drastischer jedoch fällt das Verhalten des im Fall Rosina Toths von der AUVA beauftragten Gutachters aus. Die seit ihrem Unfall an den Rollstuhl Gefesselte berichtet hier selbst das Geschehene so eindringlich, dass ich sie im Original wiedergeben möchte:

"Ich war beim Psychiater-Neurologen Dr. Wolf von der AUVA. Dort hat mich ein Bekannter hingebracht. Dort waren Stufen. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich mit der Rettung hingefahren. Wusste ich aber nicht. Dann bin endlich drangekommen, da hat er gesagt, ich muss mich ausziehen. Sag ich ja, aber ich brauch Hilfe. Dann hat er nicht einmal eine Kollegin geholt, sondern hat gesagt, ich soll mich zusammenreißen. Dann wollte ich aufstehen, bin umgefallen, hab dort auf den Boden gekotzt. Und er hat daraufhin gesagt, ich soll da nicht herumsimulieren, das ist alles ein Theater, was ich da aufführe, während ich am Boden in meinem Erbrochenen lag und weinte."

Einzelfälle? Ausnahmen?

Handelt es sich bei diesen Vorfällen um tragische Einzelfälle, Ausnahmen innerhalb eines ansonsten gut funktionierenden Rechtsstaats? Oder geschieht solches nicht viel häufiger, als man denkt, jedoch zumeist, ohne dass es in die Medien gelangt und irgendjemand davon erfährt? Sind solche Ereignisse vielleicht sogar systemimmanent und weisen auf tiefergehende Defizite des Rechtsstaats hin? Das sind Grundsatzfragen, die im Zuge der täglichen Berichterstattung kaum gestellt werden.

Wenn ich etwa den STANDARD lese, so finde ich zwar über einen gewissen Zeitraum verstreut beispielsweise kritische Artikel über die skandalösen Umstände des Tierschützerprozesses, über die ungeheuerliche Urteilsbegründung im Fall des steirischen Arztes L. oder über den 17 Jahre lang währenden Kampf eines Behinderten, dem mit einer nicht der Wahrheit entsprechenden Sachverhaltsdarstellung sein Recht verweigert wird.

Dass die Journalisten solche Fälle aufzeigen, ist lobenswert. Was allerdings fehlt ist eine systematische Betrachtung. Selten wird über den Modus der Skandalberichterstattung und damit über den Einzelfall hinausgegangen. Dabei spricht die Logik für die Annahme, dass das, was zufällig gelegentlich an die Öffentlichkeit gelangt, nur die Spitze eines Eisberges darstellt. Vermutlich sind solche Ungeheuerlichkeiten also gar nichts Ungewöhnliches, sondern alltäglicher und fester Bestandteil unseres Rechtssystems. Und passiert solches nicht immer dort, wo Menschen Macht über andere Menschen haben, aber nur ungenügender Kontrolle unterliegen?

Es ist jedoch merkwürdig: Obwohl man immer wieder Schockierendes aus den Medien erfährt, obwohl fast jeder im Laufe seines Lebens irgendjemanden kennenlernt, der Albtraumhaftes vor Gericht erlebt hat, bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung das Bild aufrecht, dass mit unserem Rechtsstaat "im Großen und Ganzen eh alles in Ordnung" sei.

Das ist es aber nicht.

Schwarzmalerei?

Wer mich der Schwarzmalerei bezichtigt, der kann gerne die Probe aufs Exempel machen und sich die Frage stellen, ob er gerne in ein gerichtliches Verfahren verwickelt werden möchte. Die meisten werden dies selbstverständlich sogleich verneinen.

Was an sich schon bedenkenswert ist. Denn wäre unser Rechtsstaat intakt, dann müssten sich ja die Bürger unseres Landes regelrecht auf Prozesse freuen – denn dort bekämen sie doch ihr Recht. Mehr noch, sie müssten geradezu jubeln: "Ja, jetzt bekomme ich endlich mein Recht!"

Stattdessen haben die meisten Angst vor dem Gericht. Und, was erst recht zu denken geben sollte: Sogar diejenigen haben Angst, die wissen, dass sie im Recht sind und sich nichts zuschulden kommen haben lassen. Denn sie wissen, dass ihnen das unter Umständen gar nichts nützen wird.

Das heißt jedoch, dass der durchschnittliche Bürger, selbst wenn er über kein Detailwissen verfügt, intuitiv weiß, was vor Gericht wirklich auf ihn wartet: Dass es ihm gar nichts hilft, wenn das Recht theoretisch auf seiner Seite ist, weil das Verfahren aufgrund der obskuren Eigenheiten unseres Rechtssystems und oberflächlicher formaler Gründe trotzdem gegen ihn ausgehen kann, dass es in ein endloses Prozessieren ausarten kann, das ihn in ausufernde, all seine Kräfte und seine Zeit raubende Papierkriege verwickelt und auch finanziell und existenziell zugrunde richtet; dass er es dabei mit undurchschaubaren, übermächtigen Ritualen und mit Wort- und Rechtsverdrehern aller Art zu tun haben wird, denen er mehr oder weniger hilflos ausgeliefert sein wird, und, und, und.

Ich habe in meinem Bekanntenkreis Personen, denen ungeheures Unrecht geschehen ist – das eindeutig klagbar wäre – und dennoch gehen sie nicht zu Gericht, sondern lassen es auf sich beruhen, weil sie sich sagen, einen Prozess tun sie sich nicht an, das bringt lauter Schwierigkeiten.

Was spricht mehr gegen einen Rechtstaat als Bürger, die ihm so wenig trauen? Mit dem Gericht will niemand, der ganz bei Trost ist, freiwillig etwas zu tun haben. Dem ist nur hinzuzufügen, dass die Grauslichkeit der Realtät dann oft das, was der Durchschnittsbürger ahnt, bei weitem überschreitet.

Die Wahrheit interessiert vor Gericht keinen

Einer, der sich nicht davon abhalten ließ, zu Gericht zu gehen, ist Josef Müller*, der während einer Radfahrt von einem wütenden Hund angegriffen, zu Sturz gebracht und übelst zugerichtet wurde. Und da er vom Interesse des Gerichts an wohldokumentierten Fakten ausging, sammelte er in den Jahren, in denen er auf das Entschädigungsverfahren warten musste, akribisch alle Unterlagen, Befunde und Fotos des gewaltig angeschwollenen Beins sowie Belege für die Behandlungskosten.

Seine erste Überraschung erlebt er freilich schon lange vor dem Prozess, als er das Gutachten der Versicherung, ebenfalls ein bloßes Aktengutachten, liest, das nicht nur vor von enormer Schlampigkeit zeugenden Schreibfehlern, sondern auch vor lauter leicht nachweisbar falschen, ja frei erfundenen Behauptungen strotzt – und dennoch später vom Gericht als Beweis gewertet werden wird. Derart werden aus fünf Bisswunden plötzlich drei, der Inhalt eines Krankenhausbefundes wird in sein Gegenteil verkehrt, so dass es die Schwellung plötzlich nicht mehr gibt, und ein Lymphödem, das in den Unterlagen aufscheint, wird schlicht nicht erwähnt.

Josef Müller schickt ein Schreiben an seine Anwältin, in dem er auf diese Unwahrheiten hinweist und dies gründlich und umfassend belegt. Die Anwältin liest sich das nicht einmal durch.

Wir streifen hier das Thema der Rechtsbeistände, die ein Kapitel für sich sind: die Advokaten, von denen man eine vollkommen falsche Vorstellung hat, wenn man sie sich so engagiert wie im Film und in TV-Krimis vorstellt. Viele, die mit dem Gericht zu tun hatten, haben etwas ganz anderes kennengelernt: Anwälte, die auf E-Mails nicht antworten, unerreichbar sind, manchmal nur das Notwendigste, manchmal schlicht nichts – weswegen man sie dann wechseln muss – oft auch etwas ganz Falsches tun, häufig einen selbst alle Wege erledigen lassen, von der Materie bisweilen schon weniger verstehen als ihre Klienten – am Schluss aber trotzdem ungeheuer teuer sind, was schon so manchen ruiniert hat – so dass es Zungen gibt, die sagen, man bräuchte eigentlich einen Anwalt gegen seinen Anwalt.

Josef Müller hofft natürlich trotzdem darauf, dass er beim Prozess endlich die Gelegenheit haben wird, alle seine Befunde und Belege auszubreiten. Dazu kommt es jedoch nicht. Bei der Verhandlung ist er mit einem ganzen Meer falscher und absurder Behauptungen konfrontiert, und er hat einen Berg von Akten mit sich, mit denen er sie widerlegen kann, das heißt widerlegen könnte – denn er bekommt dafür nie das Wort erteilt. Es interessiert keinen, niemand schaut sich diese Unterlagen an, nicht einmal die eigene Anwältin. Am Schluss der Verhandlung erhält er gerade eine Minute Redezeit.

Das Gericht als Schauplatz des Verstummens ...

Und nein, das ist keineswegs ein Einzelfall. Helmut Cukman legt seine Befunde sogar persönlich den Gutachtern vor: "Das hat aber niemand interessiert – weder die Gutachter noch den Richter."

Die oben schon erwähnte Rosina Toth "durfte in dem vier Jahre dauernden AUVA-Verfahren im Gerichtssaal nicht einen einzigen Satz sagen." – "Wollte sie sich bei der Erörterung der Gerichtsgutachten zu Wort melden, um die Angaben des Gutachters zu korrigieren, wurde sie vom Vorsitzenden Richter sofort zurechtgewiesen, sie habe hier nichts zu sagen[,] und ihr das Wort entzogen."

So kann sie sich nicht dagegen wehren, dass nicht nur schwere PKW-Beschädigungen, sondern sogar ein ganzer Notarzthubschraubereinsatz, Bewusstlosigkeit und ein Schädel-Hirn-Trauma plötzlich aus den Akten verschwunden sind, als hätte es sie nie gegeben. Da geht es ihr umgekehrt wie einem anderen Betroffenen, Adolf Stifter, in dessen Akten plötzlich eine Untersuchung der Hirnstammfunktionen aufscheint, die nie stattgefunden hat.

Schon als burlesk muss man übrigens die Begründungen bezeichnen, die die Urteile dann regelmäßig enthalten. Da werden Gutachten, so absurd sie auch sein mögen, allein nur deswegen schon als richtig bewertet, weil die Sachverständigen über "fachliche Kompetenz" und "hohe fachliche Qualifikation" verfügen. Das reicht tatsächlich als Argument, um alle vernünftige Kritik abzuschmettern.

... und verbaler Gewalt

Man sollte sich also den idealistischen Gedanken abgewöhnen, dass es vor Gericht irgendwie um Wahrheitsfindung gehe. Es geht um ein bestimmtes soziales Spiel, das nach für den Uneingeweihten oft sehr undurchsichtigen und abstrusen Regeln, jedoch ganz mechanisch abgespult wird, und in dem man sich behaupten muss – während die Waffen aber oft sehr ungleich verteilt sind.

Überdies scheint es so, dass die professionellen Juristen auch gar kein Interesse haben, sich in einen unbeleckten Laien hinein zu versetzen, der den Verhandlungssaal betritt und nicht weiß, was da auf ihn zukommt. Zumindest in den Fällen, die mir persönlich bekannt sind, hat niemand – nicht einmal der eigene Anwalt – sich die Mühe gemacht, die Betroffenen ruhig und gründlich darauf vorzubereiten, wie es dort überhaupt aussehen wird, wer dort aller anwesend sein wird, was dort eigentlich der Reihe nach geschehen wird und wie man sich dann zu verhalten hat, wann man etwas sagen wird dürfen und wann nicht. Das wahrt die Aura eines übermächtigen Zeremoniells, dem man schlicht ausgeliefert ist.

Bei den wenigen Malen, bei denen ich selbst mit dem Gericht zu tun hatte, war ich insbesondere erstaunt darüber, wie wenig eine sachliche und den rechtlichen Fragen angemessene Abklärung des Falls im Vordergrund stand. Stattdessen ging es um schludrige, aggressive Polemik und rhetorische Rundumschläge, die man sich eingeschüchtert gefallen lassen musste, die betreffenden Richter nutzten ihre Position, um selbstherrlich ihre persönliche, stellenweise etwas wirre und vorurteilsbeladene Weltanschauung als die absolute Wahrheit auszubreiten, und das war es dann.

Die Verantwortung der Journalisten

Eine kontinuierliche, wirklich kritische, demokratische und niveauvolle Kontrolle über das, was – fernab aller idealistischen Vorstellungen – tagtäglich in den Gerichtssälen unseres Landes tatsächlich passiert, ist meinem Eindruck praktisch nicht vorhanden. Und das, obwohl man nicht behaupten kann, dass Gerichtsprozesse in unseren Medien kein Thema wären.

Die einzigen österreichischen Gerichtssaalreporter, bei denen mir aufgefallen ist, dass sie mit Regelmäßigkeit dem Verhalten von Richtern ihre kritische Aufmerksamkeit schenken, sind die beiden Kurier-Journalisten Peter Pisa und Ricardo Peyerl, deren Beiträge über Jahrzehnte immer mit Gewinn zu lesen waren.

Der Großteil der Berichterstattung ist – sofern man den sinnlosen Radau der Krawallzeitungen ausblendet – jedoch "brav", viel zu brav. Und was Psychiater betrifft, so herrscht selbst in liberalen Blättern ohnehin eine ungeheure Expertengläubigkeit und Autoritätshörigkeit vor, die mich manchmal erschüttert. Wenn ich etwa mitbekomme, wie einem Reinhard Haller zu Füßen gelegen wird – über den ich einmal einen sehr kritischen Leserbrief an das "profil" geschickt habe, der aber, wie das leider bei den Medien oft so üblich ist, nur verstümmelt wiedergegeben wurde¹ – dann stimmt mich das sehr nachdenklich. Doch auch den leicht durchschaubaren Floskeln durchschnittlicher psychiatrischer Gutachter wird nie auf den Zahn gefühlt, das wird nie hinterfragt.

Sendungen wie der "Bürgeranwalt" wiederum sind allenfalls ein Tropfen auf dem heißen Stein und ändern nichts daran, dass die Problematik im öffentlichen Raum unterrepräsentiert ist. In Formaten á la "Schauplatz Gericht", die am Rande der Sozialpornograpahie angesiedelt sind, hingegen geht es lediglich darum, das Leiden der Betroffenen zum Zwecke der Unterhaltung auszubeuten. Systemkritik wird man dort ebenso wenig finden wie in den Reenacting-Leisten diverser Sender, die vorgeblich realistisch, in Wahrheit beschönigt Gerichtsverhandlungen nachspielen lassen. Hier soll offenkundig den Zusehern der beruhigende Eindruck ermittelt werden, dass alles vernünftig und gerecht abläuft und am Schluss schon alles gut ist, wie es ist.

Um einen gewagten Vergleich zu ziehen: Im Fall von #MeToo ist es gelungen, bestimmte Formen gesellschaftlicher Gewalt nicht mehr als Sache von Einzelfällen zu betrachten, sondern zu einem breiten, öffentlichen Thema zu machen. Auch wenn ich aus verschiedenen Gründen dieser Bewegung gegenüber eine kritische Haltung habe, ist das eine Leistung, die anzuerkennen ist. Doch nicht nur sexuelle Übergriffe, sondern auch Gerichtsverfahren, die so ablaufen wie hier beschrieben, sind Formen gesellschaftlicher Gewalt, gegen die sich ein breit angelegter Protest entwickeln sollte. Eine Art #MeToo für Justizopfer wäre wünschenswert. (Ortwin Rosner, 23.11.2018)

Literaturhinweis
  • Franz Fluch: Schwarzbuch Versicherungen. Wo Unrecht zu Recht wird.
Fußnoten* Name geändert (Die Wiedergabe dieses Falls beruht auf persönlichen Gesprächen mit dem Betroffenen, der anonym bleiben wollte, und in dessen Akten und Unterlagen der Autor Einsicht genommen hat.)

¹ profil Nr. 12 vom 21. März 2016 S. 6/7.

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