Eugen Gomringer, "poema. Gedichte und Essays". € 29,80 / 212 Seiten. Nimbus-Verlag, 2018

Cover: Nimbus

Dank der Studentinnen und Studenten der Berliner Alice-Salomon-Hochschule wissen mittlerweile auch kunstferne Menschen, wer Eugen Gomringer ist: der Begründer der einstmals belächelten, mittlerweile kanonisierten konkreten Poesie. Sein Gedicht Avenidas (dessen Text rund um Blumen, Frauen und einen Bewunderer sich, wie Die Welt bemerkte, mittlerweile wohl in deutschen Fußgängerzonen abfragen ließe) muss von der Hauswand besagter Hochschule entfernt werden, nachdem die dortigen Studierenden in ihm eine potenziell sexistische Atmosphäre witterten. Man muss es so schwammig sagen, denn selbst den Studierenden war klar, dass das Gedicht nicht sexistisch ist oder von einem Übergriff erzählt. Man könne aber "unangenehm" daran erinnert werden, dass es derlei gäbe.

Es ist vor diesem Hintergrund ein Segen, dass ein neues Buch von und über Eugen Gomringer erschienen ist. poema versammelt bereits erschienene oder neu entstandene Essays von und über Gomringer, dazu zahlreiche Gedichte. Man sollte dieses Büchlein lesen, jedoch nicht auf einmal. Es wäre schade drum. Denn es gibt hier mehr als einen Gedankenanstoß, der es wert ist, in Ruhe verfolgt zu werden. poema führt den Leser, die Leserin zurück in eine im zeitgenössischen Empfinden fast schon vergessene Gefühlswelt, die eigentlich nur noch in Form von "Event"-Serien präsent ist: jene der Nachkriegszeit. Damals entstand Gomringers konkrete Poesie, aus Bewunderung für und in Anlehnung an die bereits weit entwickelte konkrete Kunst. Es ging, was in der Diskussion um Avenidas bisweilen angedeutet wurde, um eine Wiederentdeckung von Schönheit und Leichtigkeit nach dem erlebten Schrecken. Es ging um eine Neubesinnung, einen Neubeginn nach den Jahren der Diktatur und des Krieges. Gomringer selbst formulierte das als "grossen reinigungsprozess", der in der konkreten Kunst wie der konkreten Poesie "die elemente des aufbaus neu entdecken liess." Die Literaturwissenschafterin Annette Gilbert schreibt in einem Beitrag von einer "Abwendung von der Repräsentationsfunktion der Sprache" – und, möchte man ergänzen, damit auch von einer Abkehr vom totalitären, gewaltsamen, manipulativen Potenzial, das Sprache eben immer auch hat. Nicht als Sprache an sich, sondern durch die Möglichkeiten ihrer Verwendung.

Wer spricht hier eigentlich?

Gomringer, das macht vor allem der Text des Schweizer Pfarrers und Schriftstellers Kurt Marti deutlich, ging es dagegen um das offene Spiel, das sich mit der Sprache ebenso treiben lässt. Die Gedichte sind für ihn zur Verfügung gestelltes Sprachmaterial, das die Leserinnen und Leser selbst zu Dichtern werden lässt, die mitdenken, -schreiben, -spielen. Gomringer sah seine Texte als Gebrauchstexte, zur Verwendung bestimmt. Die zahlreichen Texte in diesem Band zeigen in beeindruckender Fülle, wozu das führen kann. Es ist verblüffend, was sich aus diesen oft nur aus wenigen Worten bestehenden Gedichten (am berühmtesten das 1960 entstandene Schweigen, das 14-mal das Wort "Schweigen" um eine Leerstelle herum ordnet) schöpfen lässt, wie produktiv diese Gedichte noch immer sind. In poema versammeln sich unterschiedliche Beiträge von Walter Jens, Peter von Matt oder Sibylle Lewitscharoff – am sprachlich wie gedanklich eindrucksvollsten unter all den Texten dabei sicherlich jener von Oskar Pastior: Mit dem Fleisch des Schweigens.

Man ist nach der Lektüre dieses Bandes in vielerlei Hinsicht erschrocken über das, was in Berlin geschehen ist. Darüber, wie wenig sich die Studierenden (und auch das Gros der Kommentare) mit der konkreten Poesie auseinandergesetzt haben. Damit, dass es hier in erster Linie um das Materielle der Sprache geht, dass die Konstellationen, wie Gomringers Gedichte heißen, "eine realität an sich und kein gedicht über ..." sein sollen.

Wurde überhaupt einmal nach der Perspektive in dem Gedicht des Anstoßes gefragt, danach, wer hier eigentlich spricht und in welcher Absicht? Wurde auch nur einmal in Betracht gezogen, dass sich dieses Gedicht in seiner Offenheit doch auch von seinen Kritikern verwenden und weiterschreiben ließe? Man erschrickt, wie wenig hier eine Auseinandersetzung erfolgte, wie respektlos mit einem anderen Menschen und seinem Tun umgegangen wurde, wie wenig man sich interessiert hat für das "Andere", das einen befremdet oder missfällt.

Gomringer wird einem in diesem Buch immer wieder als ein Mensch von großer Offenheit vorgestellt, als jemand, der sich für andere und ihr Schaffen interessiert. Dass ausgerechnet einem wie ihm so etwas widerfahren muss, macht traurig. Stellt man sich doch, unabhängig von jeder konkreten Bewertung oder Parteinahme, die Frage: Was ist aus uns geworden, dass wir uns Meinungen und Kategorien bilden, während das betreffende Gegenüber dabei unversehens aus dem Blickfeld gerät? Plötzlich scheinen die Vorkommnisse an der Alice-Salomon-Hochschule nur wie ein weiteres Symptom einer gesellschaftlichen Entfremdung. (Andrea Heinz, 17.11.2018)