Künstlerische Darstellung von Neandertalern bei der Jagd.

llustration: Gleiver Prieto / Katerina Harvati

Skelette von Homo neanderthalensis (links) und Homo sapiens im Vergleich.

Foto: Ian Tattersall

Das Bild von den Neandertalern als unterbelichtete, grobe oder gar brutale Höhlenbewohner hat sich in den vergangenen Jahren gründlich gewandelt. Inzwischen ist klar, dass Homo neanderthalensis dem modernen Menschen in vielerlei Hinsicht ebenbürtig war. Eine Studie im Fachblatt "Nature" trägt nun weiter zur Rehabilitation unserer ausgestorbenen Verwandten bei: Wie Forscher der Universität Tübingen berichten, waren Kopfverletzungen bei Neandertalern nicht häufiger als bei frühen anatomisch modernen Menschen in Eurasien.

Die Ergebnisse würden im Widerspruch zu bisherigen Annahmen stehen, denen zufolge Fossilien von Neandertalern eine ungewöhnlich hohe Zahl von Verletzungen aufwiesen, schreiben Katerina Harvati und Kollegen. Als mögliche Gründe wurden ein gewaltgeprägtes Sozialverhalten, der Lebensstil als Jäger und Sammler in der Eiszeit, der ein hohes Unfallrisiko mit sich brachte, oder Angriffe von Raubtieren vermutet.

Vergleichbare Verletzungen

Für ihre Studie untersuchten die Tübinger Forscher in einer quantitativen, populationsweiten Analyse die Häufigkeit von Schädelverletzungen von Neandertalern und modernen Menschen des Jungpaläolithikums aus dem westlichen Eurasien. Dafür trugen sie einen neuen Datenbestand an Knochen von mehreren Hundert Fossilien mit und ohne Verletzungsspuren zusammen, und analysierten die Daten mittels statistischer Modelle. Sie bezogen dabei das Geschlecht, das Sterbealter, die geografische Verteilung der Funde sowie den Erhaltungszustand der Knochen ein.

Die Untersuchung ergab keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen, so Harvati. "Entgegen früherer Annahmen müssen wir nun die Hypothese verwerfen, nach der Neandertaler häufiger an Kopfverletzungen litten als moderne Menschen. Daher müssen auch die Vorstellungen überdacht werden, dass Neandertaler gewalttätig waren oder gefährlichere Jagdmethoden nutzten."

Männer lebten gefährlicher

Sowohl bei Neandertalern als auch bei frühen modernen Menschen lagen mehr Verletzungen bei Männern als bei Frauen vor. "Ein solches Muster kennen wir von zeitlich späteren Populationen. Es lässt sich zum Beispiel durch Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen erklären, durch die Männer möglicherweise eine größere Verletzungsgefahr hatten, oder durch andere kulturell bedingte geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und Aktivitäten", sagte Harvati.

Die Auswertung ergab aber auch auf einen bemerkenswerten Unterschied: Während die Verletzungshäufigkeit der beiden Menschenarten insgesamt gleich sei, hätten sich altersabhängige Unterschiede herauskristallisiert: Junge Neandertaler scheinen größeren Verletzungsgefahren ausgesetzt gewesen zu sein als ihre Altersgenossen unter den modernen Menschen des Jungpaläolithikums, sagte Judith Beier, die Erstautorin der Studie. "Denkbar ist aber auch, dass sich die langfristige Lebenserwartung nach einer nicht-tödlichen Verletzung zwischen den Arten unterschied."

Dieses altersabhängige Muster sei ein neuer Befund, sagte Harvati. "Insgesamt legen unsere Ergebnisse jedoch nahe, dass der Lebensstil der Neandertaler nicht gefährlicher war als der unserer Vorfahren." In einem Begleitkommentar zur Studie warnt die Archäologin Marta Mirazon Lahr (University of Cambridge), die selbst nicht an der Arbeit beteiligt war, hingegen vor einer zu schnellen Generalisierung: "In der Arbeit wurden nur Kopfverletzungen untersucht – was, wenn Neandertaler aber mehr andere Verletzungen davontrugen? Es gibt auch Daten, die darauf hindeuten." Insgesamt würden die Ergebnisse jedoch die wachsende Annahme stützen, dass Neandertaler und frühe moderne Menschen viel gemeinsam hatten. (red, 17.11.2018)