Vladimir Sorokin: "In Russland gibt es aktuell keine Gegenwart. In der Sowjetunion haben alle mit der Hoffnung auf ein besseres Leben gelebt. Man hatte also eine Zukunft. Die gibt es jetzt nicht mehr. Putin und seine Mannschaft haben die Zeit eingefroren beziehungsweise angehalten."

Foto: Maria Sorokina

STANDARD: Im ersten Moment scheint es kannibalisch, über den Büchern berühmter Autoren Steak oder Stör zu grillen. Aber es hat wohl auch eine ästhetische Komponente, wenn man ein großes Kunstwerk auf diese dekadente Art und Weise, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, zubereitet.

Sorokin: Ich verstehe, dass meine Idee des Book ’n’ Grills sehr viele Assoziationen weckt, die provokativ sind, wenn man an die Bücherverbrennung bei den Nazis denkt oder daran, dass die Menschen in Leningrad während der Blockade im Zweiten Weltkrieg Bücher zum Heizen benutzt haben. Auch wurden in Russland meine Bücher vor ein paar Jahren verbrannt. Ich bin ein sehr intuitiver Schreiber, der mit einem Impuls beginnt. Wenn ich eine Idee habe, versuche ich, diese so auszuarbeiten, dass die Geschichte um sie herum möglichst überzeugend und glaubwürdig wird. Ich kann Ihnen gern verraten, welche ursprüngliche Idee mich zu diesem Buch gebracht hat.

STANDARD: Gerne.

Sorokin: Das war an einem Wintertag. Zusammen habe ich mit einem befreundeten Philologen in einem Berliner Restaurant ge gessen. Dort gab es so einen italienischen Pizzaofen. Wir haben dabei über die Szene in meinem Roman Der Tag des Opritschniks gesprochen, als die Hexe aus Si birien dicke Bände klassischer russischer Literatur verbrennt. Und ich dachte nur: wie schade, dass beim Verbrennen dieser Bücher so viel Wärme verlorengeht. Diese Idee hat sich dann so sehr in meinem Kopf festgekrallt, dass sie sich die nächsten Tage zu entwickeln begann. Ich habe mich dann hingesetzt und mit dem Schreiben begonnen. Das war für mich sehr unerwartet, da ich eigentlich eine Pause machen wollte – nach dem Roman Telluria, der mir kreativ sehr viel abverlangt hat.

STANDARD: Zentrales Thema von "Manaraga" ist also die Literatur und die Beziehung der Menschen zu ihr?

Sorokin: Als Schriftsteller kann und will ich nicht alles erklären, was ich schreibe. Aber ja. Ich wollte einfach eine Geschichte über die Literatur erzählen, über die Beziehung der Menschen zur Literatur, die in der Zukunft nahezu gestorben sein wird, weil eben niemand mehr Bücher liest. Diese Geschichte sollte einerseits lustig sein, aber auch traurig. Eine Farce und eine Tragödie zugleich. In der Zukunft, die ich beschreibe, hat die Literatur nur noch eine Funktionalität als Ding – wie eine Steinaxt zum Beispiel. Der ästhetisch-kulturelle Wert der Literatur ist vernichtet. Und ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es so kommen wird, dass man Bücher eben nur noch als Brennholz benutzt. Andererseits habe ich die Hoffnung, dass es auch in Zukunft Leute geben wird, die Literatur schreiben und lesen können. Denn auch für solche aufwen digen Fernsehserien, wie sie ge rade in Mode sind, braucht man solche Menschen.

STANDARD: Der Protagonist Géza, ein Meisterkoch dieser Grillkunst, hat sich auf die russische Literatur spezialisiert. Die russischen Klas siker spielen ja immer wieder eine zentrale Rolle in Ihren Romanen. Ist das Book ’n’ Grill ein Versuch, den Mythos der russischen Literatur zu zerstören, um Raum für Neues zu schaffen?

Sorokin: Jeder junge Mensch, der die ersten Schritte in der russischsprachigen Literatur macht, profitiert von dem Mythos der rus sischen Literatur. Der ist wie ein Bonus. Andererseits wiegt dieser Mythos sehr schwer auf unserer Kultur und darauf, wie man unsere Kultur wahrnimmt. Tolstoj ist eben eine Marke wie Kalasch nikow oder Wodka. Dostojewski und Tschechow stehen wie Titanen oder Dinosaurier hinter dem Rücken eines jeden, der sich in die russische Literatur wagt. Mir war immer daran gelegen, den Raum der russischen Literatur zu erweitern. Und das schafft man nur, wenn man den Großen auch ab und zu einen Kinnhaken mitgibt.

STANDARD: Nach ihrem letzten Roman "Telluria" haben Sie eine Schreibpause eingelegt. "Manaraga" wirkt sehr leichtfüßig, es sprüht vor Witz und Ironie – die Pause scheint Ihnen gutgetan zu haben.

Sorokin: Der Stil, den ich in dem Roman verwende, hat selbst verständlich seine Bedeutung. Erstens habe ich ein sehr europäisches Buch geschrieben. Dazu musste ich eine erzählerische Sprache finden, die dem entspricht und die diesen Geist des Humors und des Abenteuers transportiert. Zudem ist Géza, aus dessen Sicht die Ereignisse wiedergegeben werden, jemand, der seine Arbeit liebt, der gerne unterwegs ist, der Teil dieses Book-’n’-Grill-Elitenzirkels ist. Er reflektiert seine Arbeit nicht in moralischen Kategorien. Er hegt keine Zweifel. Die beginnen erst am Ende des Romans. Über die Literatur, die er verheizt, denkt er nur als Brennmaterial nach und als ertragreiche Einnahmequelle. Er selbst ist ja auch ein Flüchtling, der kein Zuhause hat. Damit ist das Book ’n’ Grill ein wichtiger Bestandteil seiner Identität. Ohne seinen Beruf wäre er nichts. Dieses Paradox hat mich interessiert. Dass man Genugtuung an einer Arbeit erlangen kann, die eigentlich amoralisch und grotesk ist.

STANDARD: Wie lange haben Sie nach "Telluria" pausiert?

Sorokin: Die Pause ist etwas kürzer geworden als gedacht, nämlich drei Jahre. Eben wegen des Pizzaofens in Berlin. Solche Pausen hat es bei mir immer gegeben. Vor dem Buch Der himmelblaue Speck habe ich sieben Jahre keinen Roman geschrieben, sondern Theaterstücke oder Erzählungen. Und ich male ja auch sehr viel. An Manaraga habe ich letztlich rund ein Jahr gearbeitet.

STANDARD: Ihre Bücher sprühen vor Fantasie und Freiheit. Das hat sicher mit Ihrem Großwerden in der Sowjetunion zu tun, wo es Fantasie eben nur im Verständnis der Partei geben durfte.

Sorokin: In der Sowjetunion war die Fantasie die einzige Möglichkeit, unsere kleinen Utopien vor der großen kommunistischen Utopie zu schützen. Für mich war das tatsächlich eine Rettung. Viele haben getrunken. Andere haben sich in die Kreativität gerettet. Ich weiß nicht, was ohne die Literatur aus mir geworden wäre. Heute rettet mich die Literatur vor der Routine und vor dem Alltag.

STANDARD: Viele Ihrer Romane sind Antiutopien. Lässt es sich im postsowjetischen Raum leichter Dystopien schreiben als anderswo?

Sorokin: In Russland gibt es aktuell keine Gegenwart. In der Sowjetunion haben alle mit der Hoffnung auf ein besseres Leben gelebt. Man hatte also eine Zukunft. Die gibt es jetzt nicht mehr. Putin und seine Mannschaft haben die Zeit eingefroren bzw. angehalten. Wir leben in einer Mischung aus Historischem aus dem Mittelalter und aus der Sowjetunion. Es gibt keine Dynamik nach vorn. Das lässt sich gut in der Literatur beobachten. In den vergangenen 20 Jahren ist kein Roman in Russland erschienen, der die Mechanismen der gegenwärtigen Realität beschreibt. In so einer Situation kann man nur fantasieren oder man erinnert sich an die Vergangenheit.

STANDARD: Verfolgen Sie die zeitgenössische deutschsprachige Literatur?

Sorokin: Ich frage meine Kollegen immer: Gibt es einen neuen Stern in der deutschsprachigen Literatur? Und die meisten fangen dann an zu lachen. Diesen Stern scheint es wohl nicht zu geben. Vielleicht liegt es an der Angst vor der Fantasie. Denn in den Zwanzigern und Dreißigern gab es wohl sehr viel davon. Dann kamen die Nazis. Und mir scheint, dass die Kultur in Deutschland nach dem Krieg eine sehr verängstigte ist. Es gab Ausnahmen wie Fassbinder, der sich wie ein Wahnsinniger von dieser Angst freigemacht hat. Aber in der Literatur scheint das nicht geglückt zu sein.

STANDARD: Sie selbst gelten ja schon seit geraumer Zeit als Klassiker der russischen Literatur. Ist Ihnen nicht eher unwohl bei diesem Gedanken?

Sorokin: Noch will ich kein Klassiker sein. Ich lebe ja noch.

STANDARD: Wenn Sie auf einem Ihrer Bücher etwas grillen müssten, welches Buch würden Sie wählen und welches Gericht würden Sie auf ihm zubereiten?

Sorokin: Ich habe das Buch Roman geschrieben, ein sehr dickes Buch. Darauf würde ich versuchen, eine klassische russische Kohlsuppe zu kochen, die Schtschi. (Ingo Petz, 17.11.2018)