Es ist auch als Beobachter einigermaßen schwierig, bei den Chaostagen von London ruhig Blut zu bewahren. Konnten sich manche Europäer noch bis vor kurzem mit gutem Recht einreden, der Brexit wäre ein erheblicher Verlust für die Union, stellt sich nun auch den Anglophilsten auf dem Kontinent die Frage: Haben die in London eigentlich noch alle Teetassen im Schrank? Allem Anschein nach ist dem nicht so. Die derzeitige britische Führung demonstriert vielmehr, dass mit ihr kein Staat, geschweige denn eine Europäische Union – oder ein vernünftig geregelter Austritt daraus – zu machen ist.

Lange Zeit hieß es, der angelsächsische Skeptizismus sei die Garantie dafür, ein zuweilen überschießend idealistisch agierendes Brüssel auf den Weg des pragmatischen Realismus zurückzuführen. Heute lässt sich stattdessen beobachten, dass britische Hasardeure auf heimatlichem Boden zwischen Empire-Fantastereien und Kapitulationslegenden politisch Pogo tanzen – im beschwingten Pas de deux von "Should I Stay or Should I Go" und epochalem Elitenversagen. Es ist hoch an der Zeit, diesen Briten Farewell zu sagen. Und zwar mit oder ohne Austrittsvertrag. Denn pragmatisch und realistisch ist an ihnen nicht mehr viel, die Union steht zweifellos besser ohne sie da.

Britenrabatt

Schon als London noch einigermaßen berechenbar war, hatte das Vereinigte Königreich kein gesteigertes Interesse an einer europäischen Solidargemeinschaft. Es verhandelte sich einen nur mit britischer Zustimmung kündbaren Britenrabatt bei den EU-Beiträgen heraus. Dazu kamen zuletzt bei jedem neuen Integrationsschritt allerlei Ausnahmeklauseln: bei der Grundrechtecharta oder bei Schengen etwa. Dem Euro sind die Briten erst gar nicht beigetreten. In Brüssel waren sie in den vergangenen Jahren jedenfalls keine gerngesehenen Partner mehr, denn ungeniert offen hintertrieben sie die gemeinsame Sache zeitweise mehr, als sie diese voranbrachten. Zuletzt hatte London, nachdem der Brexit bereits per Referendum beschlossene Sache war, nicht einmal mehr den Anstand, sich aus der Türkei-Politik der Union herauszuhalten, die eigentlich gar nicht mehr Sache von Downing Street war.

Tritt das Vereinigte Königreich kommenden März nach immerhin 46 Jahren und knapp drei Monaten tatsächlich aus der Europäischen Union aus, wird das politisch per saldo für die verbleibenden 27 Mitglieder ein größerer Gewinn als Verlust sein. Denn dann hat die EU eine neue Chance, das anzustoßen, was sie schon lange dringend braucht: einen Prozess der Selbstvergewisserung. Erst recht mit Blick auf die Salvinis, Orbáns und Kaczynskis, die ihre offene Ablehnung der Union unter dem Deckmantel legitimer Kritik zu verbergen versuchen.

Ihnen muss jener Teil der Union, der nach wie vor an die europäische Integration glaubt, signalisieren: Dort ist die Tür, ihr könnt den Briten gern folgen. Wer nichts beitragen will und wem selbst seine eigenen Interessen gleichgültig sind, der hat in der EU nichts verloren. (Christoph Prantner, 16.11.2018)