Meine Mutter, die Malerin, ist der unumstößlichen Meinung, dass Kunst das Wichtigste ist. Irgendwann nach Kunst kommen Kinder und der Rest der Welt. In diesem Sinne ist sie eine Vorkämpferin für das Wahre und Schöne.

Das Wahre und Schiache freut sie nicht ganz so sehr. Aber wenn man es geschickt anstellt, ist sie dennoch bereit, auch dieses Unschöne zu akzeptieren. Solange es halt Kunst ist. Im realen Leben ist das Hässliche aber ein absolutes No-Go. Nach wie vor.

Umso mehr freute sie sich, als ein langjähriger Freund und Dichter, uns in Emigrationsschicksal verbunden, letztens einen neuen Lyrik-Text schickte – per E-Mail. Das Werk, vermerkt mit "Für dich persönlich", begann mit der Überschrift "Der Malerin gewidmet". Sie hielt es nicht bis zu Hause aus, die Freude und Neugier siegte.

Noch im Bus öffnete sie das Dokument – und erstarrte. So ging es nämlich weiter: "Ein überaus verlogener Blick." Sie schluckte, unterdrückte das Beben der Hände und zwang sich, weiterzulesen. Der nächste Satz war leider nicht schmeichelhafter: "Gesicht vom Leben abgenutzt." Das alles tat zwar auf der Stelle ordentlich weh, aber, so sagte sie sich, das sei eben Kunst. Da müsse man durch.

Die Reflexion des Künstlers sei eben seine ganz eigene, subjektive Wahrnehmung von ihr und hatte es verdient, fertiggelesen zu werden, auch wenn es wirklich, wirklich unangenehm war. Sie riss sich zusammen und wagte den nächsten Abschnitt.

"Ein grauer Bart ..." Verwirrung kämpfte in ihr nun mit Erleichterung. Mit diesem grauen Bart konnte sie wohl unmöglich gemeint gewesen sein. Die nächsten Absätze brachten endgültige Klärung. "So sehe ich mich. Die Malerin jedoch sieht mich anders." Die Kunst und meine Mutter hatten sich wieder lieb. (Julya Rabinowich, 16.11.2018)