Renault sorgt sich um seine Vorrangstellung gegenüber den Japanern.

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Paris stand am Dienstag weiterhin unter Schock. Carlos Ghosn, an der Seine "Imperator" genannt, dieser so erfolgreiche und zugleich charismatische Patron, der den ehemaligen Staatsbetrieb Renault mit dem Partner Nissan zur Nummer eins der Welt noch vor dem deutschen Giganten VW gemacht hatte – er wurde in Tokio direkt vom Privatjet in die Haftzelle gebracht.

Das ist aber längst nicht alles: Am Dienstag wich die erste Bestürzung einer tiefen Sorge. Denn langsam – nein: geradezu rasant – macht sich in Paris das Bewusstsein breit, dass, wie das Onlineportal "La Tribune" schreibt, "das Wirtschaftsmodell des französischen Herstellers fast ausschließlich auf seiner Allianz mit Nissan beruht". Und dass genau dieses Modell nun akut gefährdet ist.

Französische Vormachtstellung

Oder, genauer gesagt die französische Vormachtstellung darin. Sie ist personeller wie finanzieller Natur: Ghosn war nicht nur Konzernchef von Renault, sondern auch der franko-japanischen Allianz; nur die Leitung von Nissan hatte er zugunsten des Verwaltungsratsvorsitzes abgegeben. Zudem hält Renault 43,4 Prozent der Anteil an Nissan, dieser aber nur 15 Prozent – und keine Stimmrechte – am französischen Unternehmen. Dieses Ungleichgewicht rührt daher, dass Nissan 1999 am Abgrund gestanden und auf Hilfe von Renault angewiesen gewesen war. Heute ist es ökonomisch nicht mehr gerechtfertigt, da Nissan umsatzmäßig fast doppelt so viel wiegt wie Renault und außerdem Mitsubishi in die Ehe eingebracht hat.

Profitables Ungleichgewicht

Daher die Angst in Paris: Ohne Ghosn werden die Franzosen dieses für sie so profitable Ungleichgewicht – Nissan hat in 20 Jahren Milliarden an die Gewinnrechnung von Renault abgeführt – nicht aufrechterhalten können. Vor drei Jahren hatte sich die japanische Seite bereits beschwert, als ein gewisser Emmanuel Macron – damals Wirtschaftsminister – den Kapitalanteil des Staates an Renault kurzfristig von 15 auf über 19 Prozent erhöhte. Nissan ließ unüblich offen verlauten, man wolle den auch nur indirekten Einfluss eines fremden Staates nicht länger tolerieren.

Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire kündigte am Dienstag an, das Gespräch mit Nissan zu suchen. Aber das wollen die japanischen Partner gerade nicht mehr: die Einmischung der Pariser Regierung. Le Maire machte auch schon klar, was er will, nämlich die "Stabilität" der Allianz, das heißt auch so viel wie den Bestand der Überkreuzbeteiligung.

Allianz 2022

Kraft ihres doppelten Gewichts werden die Japaner zweifellos mehr Mitspracherechte in der Allianz verlangen. Diese bestimmt nämlich über 80 Prozent der Produktion aller Konzernmarken wie Renault, Dacia, Lada, Nissan, Mitsubishi und Infiniti. Bisher herrschte darüber Ghosn. Noch Anfang November hatte er im nordfranzösischen Werk Maubeuge den Ausbau der Fertigung leichter Nutzfahrzeuge bekanntgegeben, was mit der Schaffung von 200 Arbeitsplätzen einhergeht. Der Renault Kangoo, der Nissan NV250 und – im Rahmen der Kooperation mit Daimler – auch der Mercedes-Benz Citan erhalten in Maubeuge eine gemeinsam Plattform, von Renault CMF (Common Module Family) genannt. Mit dem Plan "Allianz 2022" wollte Ghosn die Synergieeffekte insgesamt auf zehn Milliarden Euro steigern.

An sich haben weder die Franzosen noch die Japaner Interesse, diese Partnerschaft aufzugeben. Die Machtfrage stellt sich aber umso akuter, als "Carlos der Große" ein riesiges Loch hinterlässt. Bei Renault, wo der Verwaltungsrat am Dienstag in aller Eile zusammengetreten ist, steht mit der Nummer zwei, Thierry Bolloré, ein Nachfolger bereit. Vorerst dürfte eine Übergangsleitung das Zepter übernehmen. Ghosn, der mit Macron auf Kriegsfuß stand, ist für die Regierung bereits "untragbar"; Le Maire will sogar den französischen Fiskus ebenfalls auf ihn ansetzen.

Namedropping in Paris

Offen bleibt die große Frage: Wer wird die Renault-Nissan-Mitsubishi-Allianz leiten? In Paris zirkuliert bereits ein Name: Didier Leroy, Nummer zwei bei Toyota und französischer Staatsbürger. Allerdings machen sich die Franzosen auf harte Verhandlungen gefasst. Sie schließen nicht aus, dass Ghosn in Tokio durch eine konzertierte Aktion zu Fall gebracht worden ist. Die Behauptung der Nissan-Direktion, ein Whistleblower habe dem japanischen Fiskus den Wink gegeben, dass Ghosn 2017 weniger Steuern bezahlt habe als im Vorjahr, wirkt nicht sehr schlüssig. Im Geschäftsbericht und in allen Presseberichten war nachzulesen, dass der Franko-Brasilianer mehr verdient hatte. Wenn er weniger Steuer deklarierte, hätte das jedem Steuerbeamten auffallen müssen.

Die Luxusbleiben in Rio de Janeiro, Beirut, Paris und Amsterdam, die Ghosn laut Pressemeldungen in Tokio kaufen und einrichten ließ, waren überdies deklariert. Das ändert indes nichts am Umstand, dass man hätte erwarten können, dass ein Konzernchef mit einem Einkommen von über 17 Millionen Euro selber für ein Dach – oder Dächer – über seinem Kopf sorgt. (brä, 20.11.2018)