Leyla Hussein: "Ich lasse mir meinen Islam nicht von Verrückten nehmen."

Foto: Matthias Cremer

Hoffnungslos wird es für die Aktivistin dann, wenn sie sieht, dass Politiker und Politikerinnen ihren Job nicht erledigen.

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STANDARD: Warum hält sich Genitalverstümmelung bis heute?

Hussein: Weil wir noch immer in einer Gesellschaft leben, die Frauen kontrollieren will. Wenn junge Mädchen beschnitten werden, wird ihnen eine Botschaft überbracht: Du bist nicht frei. Historisch kommt FGM von den Pharaonen, nicht vom Islam, aber das interessiert jene nicht, die FGM praktizieren. Solange sich damit Frauen kontrollieren lassen, ist es okay. Und die sogenannte westliche Politik spielt mit, wenn sie dazu schweigt. Ich spreche in Bezug auf FGM auch nicht von Tradition oder Kultur, sondern FGM ist schlicht Kindesmisshandlung.

STANDARD: Sie selbst leben in London. Haben europäische Städte zu wenig Erfahrung im Umgang mit FGM?

Hussein: Nein, denn sie haben Erfahrung mit Kindesmisshandlung. Für mich ist die Antwort einfach, wie wir mit FGM umgehen sollten: Behandeln wir sie einfach wie Kindesmisshandlung. Wir machen ständig den Fehler, dass wir nach unterschiedlichen Antworten suchen. Was sollen wir tun, wenn ein Kind geschlagen wird? Was, wenn einem Kind der Finger abgeschnitten wird? In Frankreich wird FGM mit dem Gesetz zu Kindesmisshandlung geregelt. Wir sollten alle Kinder gleichbehandeln, und wir müssen aufhören, FGM als etwas zu behandeln, das etwas völlig anderes wäre. Ist es nicht. Wir müssen keine speziellen Gesetze für spezielle Kinder konstruieren.

STANDARD: Sie begegnen in Ihrer Arbeit Menschen, die FGM verteidigen. Was sagen Sie ihnen?

Hussein: Menschen, die früher selbst FGM durchgeführt haben, sagen mir immer wieder, dass sie es einfach nicht besser wussten. Mein Ansatz ist, nicht zu predigen, dass FGM falsch ist, ich möchte es einfach zeigen. (In dem Film "Female Pleasure" wird Hussein gezeigt, wie sie jungen Menschen anhand einer großen Vulva aus Knetmasse zeigt, was bei den verschiedenen Formen von FGM weggeschnitten wird, Anm.) Auch Sprache ist wichtig. Nehmen wir ein anderes Beispiel, etwa den Begriff "Kinderehe". Eine Ehe mit Kindern gibt es nicht, es ist Pädophilie, keine Ehe. Wenn ich mit potenziellen Beschneiderinnen spreche und ihnen sage, dass sie zu Gewalttäterinnen werden, wenn sie beschneiden, dann reagieren sie ganz anders. Wir müssen also sehr direkt sein, wenn wir Veränderung wollen.

STANDARD: Sie selbst sind eine Überlebende von FGM. Kann Ihre Mutter Ihr Engagement gegen FGM verstehen? Und können Sie heute Ihre Mutter verstehen, die FGM an Ihnen und Ihrer Schwester zugelassen hat?

Hussein:Meine Mutter dachte früher, FGM würde ihre Religion vorschreiben. Jahre später erkannte sie, dass davon nichts im Koran steht. Meine Mutter und ich hatten eine schwierige Unterhaltung über das Thema, doch wir kamen zu einem Verständnis füreinander: Ich verstehe, dass sie das Gefühl hatte, es tun zu müssen, und sie versteht, dass ich die Wahl hatte, es nicht zu tun. Heute feiern wir, dass ihre Enkeltochter und meine Tochter nicht beschnitten wurde. Wir konzentrieren uns auf diesen gemeinsamen Ausgangspunkt. Wenn mich jemand fragt, wie ich meinen Eltern vergeben kann, dann muss ich immer daran denken, was für eine Bürde es sein muss, damit zu leben – denn meine Mutter weiß heute, dass es furchtbar falsch war. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es ist, damit zu leben. Ihr Weg, damit umzugehen, ist, mich in meiner Arbeit zu unterstützen. Ohne sie könnte ich meine Arbeit gar nicht machen.

STANDARD: Sie betonen, dass es bei FGM letztlich um die Kontrolle der Sexualität von Frauen geht. Fühlt sich der Kampf dagegen manchmal hoffnungslos an?

Hussein: Ich fühle mich hoffnungslos, wenn Politiker und Politikerinnen ihren Job nicht machen. Denn sie sind in einer Position, in der sie Entscheidungen treffen können. Es ärgert mich vor allem dann, wenn das Problem dort ignoriert wird, wo von einer "freien Welt" gesprochen wird, wo man sich um Demokratie und die Recht von Menschen bemüht. Jede Minute werden elf Mädchen beschnitten – wie viele müssen noch beschnitten werden, bis wir damit endlich durch sind? Wir sollten endlich aufhören, so zu tun, als wäre das ein Nebenproblem.

STANDARD: Sie beschreiben sich selbst als muslimische Frau. Warum ist Ihnen das wichtig, ist die Unterdrückung von Frauen doch in allen Weltreligionen in der einen oder anderen Weise verankert?

Hussein: Der Islam, mit dem ich aufgewachsen bin, ist – abgesehen davon, dass unter seinem Namen FGM angewandt wird – eine wunderschöne Religion. Niemand hat mir erzählt, ich sei anders, weil ich ein Mädchen bin, oder dass ich mir das Haar bedecken müsste. Doch den Islam, den heute viele sehen, sehe ich auch. Trotzdem lasse ich mir meinen Islam, wie ich ihn erleben durfte, nicht von Verrückten nehmen, die sich im Namen dieser Religion in die Luft sprengen oder Frauen unter einen Schleier zwingen. Wenn Sie Bilder von somalischen Frauen in den 1980er-Jahren googeln, sehen Sie keine Frau im Vollschleier.

STANDARD: Im vergangenen Jahr wurde Gewalt gegen Frauen durch #MeToo zu einem großen Thema. War das vor allem ein Vorstoß für einen "weißen" Feminismus?

Hussein: Damit nehmen Sie mir die Worte aus dem Mund. #MeToo war ursprünglich die Idee einer schwarzen Frau, Tarana Burke. Interessant wurde es aber erst, als diese Idee von Alyssa Milano aufgegriffen wurde. Grundsätzlich ist nichts falsch daran, wenn weiße Frauen ihre Privilegien für das Richtige einsetzen. Ich sage immer zu meinen weißen Freundinnen und Kolleginnen, am Ende des Tages sind wir eine Community. Wenn eine weiße Frau auf ein Podium eingeladen wird, sollte sie aber auch eine Woman of Color dafür vorschlagen. Ich selbst bin Protagonistin in einem Film, der von einer weißen Frau gemacht wurde – aber sie nutzte das Privileg, Regisseurin zu sein, sehr gut. Das ist auch ein Beispiel, wie Women of Color zu Wort kommen können. (Beate Hausbichler, 24.11.2018)