Weiter Gleichschritt.

Foto: Nadia Panteleeva

Nach 12. b4!?: Caruana attackiert am Damenflügel.

Nach 24. g3: Frischluft für den weißen König.

Nach 40…Ke6: Wer steht hier besser – und warum?

1/2-1/2 nach 54. Kg3: Das Endspiel ist trotz eines Mehrbauern remis.

London – Ein Ausrutscher könnte schon fast das Ende bedeuten. Es ist die zehnte von zwölf Runden dieser Schach-WM, und es steht unentschieden: Wenn einer der beiden Kontrahenten jetzt verliert, bleibt ihm kaum mehr Zeit, den Rückstand noch aufzuholen.

Caruana gibt Gas

Wer vor der Partie an diesem Donnerstag vermutet hat, dass das zu risikoarmer Spielweise führt, der sieht sich bald getäuscht. Magnus Carlsen dürfte von der Aussicht, ein WM-Match zum zweiten Mal seit 2016 in den klassischen Partien nicht gewinnen zu können, wenig begeistert sein. Und Fabiano Caruana blickt dem Tag für Tag näherrückenden Schnellschach-Tiebreak vielleicht doch nicht ganz so zuversichtlich und relaxt entgegen, wie er die Schachwelt glauben machen will.

Auf jeden Fall geben die beiden es sich in dieser zehnten Runde noch einmal ordentlich: wieder Sizilianisch, wieder Sweschnikow, wieder die von Caruana schon in Runde acht gewählte Nebenvariante mit 7. Sd5. Mit 12. b4!? weicht der Herausforderer von dieser Partie ab. Sein neuer Zug ist direkter, druckvoller – aber auch riskanter.

Royale Atemnot

Das zwingt Carlsen gleichsam, ebenso scharf zurückzuschießen. Der Weltmeister findet bald eine elegante Möglichkeit, seine Dame zum Königsflügel zu schwenken und dort bedrohlich gegenüber dem weißen König Aufstellung nehmen zu lassen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erinnert die Partie frappant an königsindische Stellungsbilder: Ganz wie in dieser auf scharfen Gegenangriff ausgelegten Verteidigung versucht Weiß den schwarzen Damenflügel aufzurollen, während Schwarz sich ganz bescheiden bemüht, in der Zwischenzeit den weißen König mattzusetzen.

Österreichischer Schachbund

Spätestens als Carlsen mit 21...b5! einen Bauern ins Geschäft steckt, um mehr Figuren für den Angriff freizumachen, wird dem weißen Regenten in seiner Ecke auf h1 ziemlich heiß. Caruana verschmäht das Danaergeschenk seines Gegners und öffnet mit 24. g3 ein Fenster am Königsflügel, um seiner Majestät ein wenig frische Luft zu verschaffen.

Doch lieber Endspiel

Werden die dadurch entstandenen weißen Felderschwächen aber nun nicht die Eintrittspforte für die schwarze Armee sein? Carlsen verbraucht über dieser Frage viel Bedenkzeit und trifft dann eine überraschende Entscheidung. In einer Stellung, in der alles damit rechnet, die schwarzen Figuren stante pede zum Königsflügel abkommandiert zu sehen, beginnt der Weltmeister stattdessen seelenruhig Figuren abzutauschen.

Erst sind die weißfeldrigen Läufer dran, dann nimmt Carlsen auch die Schwarzfelder vom Brett. Und was ist jetzt mit seinem Angriff?

Den hat der Norweger längst abgeschrieben. Stattdessen ist er damit beschäftigt, den gefährlich wirkenden Freibauern seines Gegners unter Kontrolle zu halten, der es inzwischen bis nach b6 geschafft hat. Aber Fabiano Caruana ist in der Zwischenzeit natürlich auch nicht untätig. Mit 38. h4 befreit er seinen König aus jener Rochadefestung, die selbst im Endspiel noch sein Sarg zu werden drohte.

Coole Hunde

Beide Spieler haben in dieser Phase vor der Zeitkontrolle im 40. Zug kaum mehr Bedenkzeit übrig. Die Zuschauer halten den Atem an, jeder Aussetzer kann jetzt die Partie und womöglich das Match kosten. Und sogar Judit Polgár im Live-Studio ist sich zu diesem Zeitpunkt nicht sicher, wer hier eigentlich auf Gewinn spielt.

Carlsen und Caruana aber geben sich keine Blöße. Später in der Pressekonferenz auf die Zeitnotphase angesprochen, wirken beide fast überrascht von der Frage, ob sie in diesem Moment Schwierigkeiten hatten, die Ruhe zu bewahren: "Ich hatte ja noch ein paar Minuten für die letzten Züge. Und die Remisbreite in dieser Stellung ist so groß, dass ich nicht sehen konnte, wie ich die Partie verderben kann", sagt ein demonstrativ cooler Fabiano Caruana.

Für geringere Sterbliche sieht auch das Doppelturmendspiel nach der Zeitkontrolle höchst unklar aus. Aber die Kontrahenten haben den Durchblick. Beide probieren noch etwas, aber keiner lässt sich übertölpeln. Dass Carlsen am Schluss noch einen Bauern spuckt, ist dem Weltmeister egal: Er hat es absichtlich getan, um ein Endspiel mit zwei gegen drei Bauern auf einem Flügel herbeizuführen, das er im Schlaf remis halten könnte.

Noch zwei Versuche

Sein Herausforderer glaubt es ihm, im 54. Zug werden die Gewinnbemühungen eingestellt. Und das Publikum darf sich über eine weitere spannende Partie freuen oder ein weiteres Mal darüber ärgern, keinen Sieger gesehen zu haben – ganz nach dem eigenen Temperament.

Zwei Versuche bleiben Carlsen und Caruana noch, um das WM-Match in den zwölf klassischen Partien zu entscheiden. Nach einem Ruhetag am Freitag führt Magnus Carlsen am Samstag zum letzten Mal vor einem möglichen Tiebreak die weißen Steine. (Anatol Vitouch, 22.11.2018)

Schach-WM in London, 10. Partie, Donnerstag

Weiß: Fabiano Caruana (USA) Schwarz: Magnus Carlsen (Norwegen) 0:5:0,5

Zwischenstand: 5:5

Eröffnung: Sizilianische Verteidigung – Sweschnikow-Variante; Züge: 54; Spielzeit: 5:22 Stunden

1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 e5 6.Sdb5 d6 7.Sd5 Sxd5 8.exd5 Sb8 9.a4 Le7 10.Le2 0-0 11.0-0 Sd7 12.b4 a6 13.Sa3 a5 14.bxa5 Txa5 15.Sc4 Ta8 16.Le3 f5 17.a5 f4 18.Lb6 De8 19.Ta3 Dg6 20.Lc7 e4 21.Kh1 b5 22.Sb6 Sxb6 23.Lxb6 Dg5 24.g3 b4 25.Tb3 Lh3 26.Tg1 f3 27.Lf1 Lxf1 28.Dxf1 Dxd5 29.Txb4 De6 30.Tb5 Ld8 31.De1 Lxb6 32.axb6 Tab8 33.De3 Dc4 34.Tb2 Tb7 35.Td1 De2 36.Te1 Dxe3 37.Txe3 d5 38.h4 Tc8 39.Ta3 Kf7 40.Kh2 Ke6 41.g4 Tc6 42.Ta6 Ke5 43.Kg3 h6 44.h5 Kd4 45.Tb5 Td6 46.Ta4+ Ke5 47.Tab4 Ke6 48.c4 dxc4 49.Txc4 Tdxb6 50.Txe4+ Kf7 51.Tf5+ Tf6 52.Txf6+ Kxf6 53.Kxf3 Kf7 54.Kg3