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A. L. Kennedy: "Jene, über die man nichts weiß, in die man sich nicht hineinversetzt, die sieht man gar nicht als Menschen an."

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STANDARD: Ihr neuer Roman "Süßer Ernst" ("Serious Sweet", 2016) erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem Staatsbeamten Jon, der an den Ränkespielen in Westminster verzweifelt, und Meg, einer trockenen Alkoholikerin, die verheerende sexuelle Gewalt erfahren hat. Der Roman scheint so umwälzende Ereignisse wie den Brexit oder MeToo bereits zu antizipieren?

Kennedy: Als ich das Buch schrieb, waren MeToo und der Brexit noch kein Thema. Aber was MeToo betraf: Man wusste immer, dass es das gab. Es wurde nur nicht darüber gesprochen. Genauso spürten alle, dass etwas Schreckliches passieren würde. Es wusste nur keiner, dass es der Brexit sein würde. Etwas so Unglaubliches konnte man unmöglich vorhersehen. Das ist nationaler Selbstmord. Auf diese beiden Bereiche, Politik und Geschlechterbeziehung, wollte ich einen Blick werfen, denn in beiden lag offensichtlich einiges im Argen.

STANDARD: Meg, die als Bürokraft in einem Tierheim arbeitet, sagt einmal über Menschen, die "einem lebenden Wesen die Beine brechen": "Ich kann mich nicht in das Denken eines Menschen hineinversetzen, der so etwas tun würde ... Das ist ein Rätsel, auf das ich immer wieder zurückkomme, weil es keine Lösung hat." Jon schreibt fremden Frauen Liebesbriefe, diese Briefe führen die beiden zusammen. Ist Schreiben ein Weg, mit all dem unerklärlichen Leid fertig zu werden?

Kennedy: Menschen wollen gebraucht und geliebt werden – aber sie möchten auch die Person sein, die sie sein könnten, würden sie Liebe geben. Jon und Meg vermissen beides, lieben und geliebt zu werden. Beschädigt, wie sie sind, sind sie nur noch dazu fähig, kleine Mengen von Liebe zu nehmen und über eine Mauer zu werfen. Mit der leisen Hoffnung: Vielleicht fängt sie jemand, vielleicht wirft sie sogar jemand zurück? Und vielleicht werden sie dann davon getroffen! Das ist natürlich verrückt, aber für Menschen, die sehr beschädigt sind, ergibt das Sinn. Mich erinnert es an die Vorstellung, dass einen Roman zu verfassen so ist, als schriebe man Liebesbriefe an Fremde.

STANDARD: Weil es, in der Liebe wie in der Kunst, darum geht, etwas von sich herzugeben, sich buchstäblich mitzuteilen?

Kennedy: Der Psychiater M. Scott Peck schreibt in The Road Less Traveled (dt.: Der wunderbare Weg) von Liebe als dem Bestreben, für andere über sich selbst hinauszuwachsen. Die Grunddefinition von Kunst ist die Definition von Liebe. Dieses Prinzip, die eigene Mitmenschlichkeit auf Fremde auszuweiten, hat etwas zutiefst Humanistisches. In der Literatur erschafft man Figuren, in die jemand anderer hineinschlüpfen, die er sich überziehen kann.

STANDARD: Sie haben mal geschrieben, in Zeiten wie unseren wäre es eine gesellschaftliche Notwendigkeit, Fiktion zu schaffen. Haben Sie das damit gemeint?

Kennedy: Jene, über die man nichts weiß, in die man sich nicht hineinversetzt, die sieht man gar nicht als Menschen an. Nur so konnte man glauben, es wäre eine gute Idee, die EU zu verlassen. Oder die EU würde gar nicht wirklich existieren. Über Jahrzehnte hinweg wurden weniger als fünf Prozent der Bücher in Großbritannien aus anderen Sprachen übersetzt. Dieser Mangel an Verständnis für andere hat sich irgendwann in die Haltung verkehrt: Die anderen sind nicht verständlich. Nicht wir verhalten uns dumm und engstirnig, der Rest der Welt ist schlicht leer. Da ist nichts. Terra incognita. Das ist sehr gefährlich. Auf diese unbeschriebene Fläche projizieren diese schreienden Karikaturen von Populisten Sätze wie: Alle versuchen, dich umzubringen. Vertrau nur Menschen, die so sind wie du. Versetz dich bloß nicht in andere hinein. Nimm keinen fremden Standpunkt ein.

STANDARD: Kann Fiktion da noch helfen?

Kennedy: Literatur zu lesen ist eine sehr durchdringende Erfahrung. Nur ist es bei uns, wie wohl auch in Deutschland oder Österreich, so: Frauen lesen eher Literatur, Männer eher Sachbücher. Denn das sind harte Fakten und deshalb wichtig, während erfundene Sachen nicht wichtig sind. Dabei ist die Geschichte deines Lebens, die du dir selbst jeden Tag erzählst, doch auch erfunden. Und wichtig! Andere Geschichten vermischen sich damit, spielen in deine eigene hinein – nationale, lokale Mythen, Geschlechtermythen. Was ist ein Mann, was ist eine Frau? Das alles ist Fiktion, und als solche kann man sie umschreiben. Aber wenn du nicht weißt, dass es Fiktion ist, kannst du sie auch nicht verändern. Dann bist du in ihr gefangen.

STANDARD: Das erinnert mich an Yuval Hararis "Sapiens". Darin schreibt er, dass das, was den Menschen so einzigartig macht, seine Fähigkeit ist, Geschichten zu erzählen.

Kennedy: Wir haben Worte. Wir sind sehr expressiv, niemand sonst im Tierreich hat diese irren Augenbrauen, diese Möglichkeiten von Gesichtsausdruck. Und kein anderes Tier lacht! Wären wir Schimpansen, müssten wir uns ständig anfassen, um sicherzugehen, dass wir verstehen, was grade passiert. Stattdessen können wir sehr präzise Geräusche machen. Das ist unsere Art, uns zu berühren. Wenn die Kommunikation zusammenbricht, sind wir genauso verstört und desorientiert wie Schimpansen, die sich nicht mehr anfassen können. Wir wissen nicht mehr, was los ist.

STANDARD: Ihre Figuren führen solche Situationen absichtlich herbei, sie leiden unter veritabler Beziehungsangst. Beide suchen Nähe, um panisch davor zu flüchten. Jon denkt einmal: "Ja, ich wollte sie küssen. Aber ja, ich bin weggerannt." Woher kommt diese Angst vor Nähe, ist das ein Phänomen der Moderne?

Kennedy: Zu anderen Zeiten, an anderen Orten, besonders, wenn man eine Frau war, war es schlicht sehr schwer, allein zurechtzukommen. Heute ist das anders. Wenn man nicht mehr um jeden Preis heiraten muss – warum sollte man es dann tun? Wenn man immer nur verletzt wurde, so wie Jon und Meg, dann will man das irgendwann nicht mehr und versucht, Nähe zu vermeiden. Verpflichtung und Veränderung sind ohnehin beängstigend. Diese Angst kann durchaus vernünftig sein – trotzdem sollte man nicht unbedingt auf sie hören.

STANDARD: Sie selbst haben, bevor Sie anfingen, Bücher zu veröffentlichen, als Sozialarbeiterin mit Jugendlichen und Inhaftierten Schreib-Workshops gemacht. Wie liefen die ab?

Kennedy: Ich habe die Menschen gefragt, was sie machen wollen. Manche waren Analphabeten, andere hatten eine Lernschwäche – aber die Fähigkeit und der Wille, Geschichten zu erzählen, sind davon ja unabhängig. Wir fanden immer Techniken und Möglichkeiten, um aufzuzeichnen, was die Menschen ausdrücken wollten. Es gab Leute, denen gefiel das gar nicht. Wenn man Menschen zugewandt, ermutigend und interessiert begegnet, dann verändern sie sich. Sie fangen an, Fragen zu stellen, sie lassen sich nicht mehr so leicht bevormunden und lenken. Wenn sie ihre Menschlichkeit und ihre Kreativität äußern können, werden sie zu einem Individuum.

STANDARD: Wie hat diese Arbeit Sie geprägt?

Kennedy: In einer meiner ersten Schreibgruppen sind Gedichte entstanden. Wir entschieden, sie vor großem Publikum vorlesen zu lassen, von eigens eingeladenen Autoren. Meine Kollegen verfolgten das mit jenem Gesichtsausdruck, den man hat, wenn ein Kleinkind sich anschickt, etwas vorzutragen. Als sie die Gedichte hörten, wirkten sie verschreckt, sogar wütend. Diese Sozialarbeiter, die mit diesen Leuten arbeiteten – sie wollten nichts davon wissen, dass das Menschen sind. Ich war Anfang zwanzig, und damals habe ich gelernt: Nicht allen ist es gestattet, ein Mensch zu sein.

STANDARD: Haben Sie deshalb ein so existenzielles Verständnis von Schreiben entwickelt?

Kennedy: Normalerweise würde man in diesem Alter einen Master in Kreativem Schreiben machen, sich schwarz anziehen und darüber reden, wie schwer es ist zu schreiben. Dieses Gerede von: Meint Sprache wirklich etwas? Das ist unmoralisch, unpraktikabel und politisch gefährlich. Solches Gerede ist dumm, und dumm zu sein ist nicht hilfreich, weder für andere noch für einen selbst. Wenn du keine Freiheit hast, dann weißt du ganz genau, was das Wort "Freiheit" bedeutet. Als Autorin formst du Wörter zu Sätzen, du gibst ihnen Bedeutung. Darum geht es. Kunst kommt entweder von einem universellen Ort oder von einem narzisstischen. Was ich über das Schreiben gelernt habe: Es ist das Machtvollste und Stärkste, das du jemandem geben kannst. Es geht buchstäblich um Leben und Tod. Entweder du existierst, oder du lebst. Und mit Worten, mit einer Stimme bist du am Leben.

STANDARD: Ich nehme an, von Schreibschulen halten Sie nicht besonders viel?

Kennedy: Es geht um Geld. In Großbritannien ist es teuer, so eine Schreibschule zu besuchen. Wenn du gewillt bist, 9000 Pfund für jemanden zu bezahlen, der deine Entscheidungen für dich trifft, dann kannst du nicht schreiben. Während die Menschen, die sehr wohl Entscheidungen treffen können, vermutlich zu Hause sitzen und ihren Roman schreiben. Sie brauchen nicht über Metaphern oder sonst was zu diskutieren, sie brauchen einfach nur die Geschichte zu erzählen, die in ihnen brennt. Denn nur darum geht es: Was macht dir Angst? Wenn du morgen stirbst, was müsstest du unbedingt noch sagen?

STANDARD: Jon spricht im Roman einmal von einer "Nicht-ganz-Sprache". Finden die Menschen auch in Politik und Medien nicht mehr die richtigen, klaren Worte?

Kennedy: Viele von den Staatsbeamten, wie Jon im Roman einer ist, haben frustriert aufgehört. Unaufhörlich haben sie auf die Fakten hingewiesen, ihre Analysen präsentiert. Aber schon als Blair in den Irak einmarschierte, sagte er viel lieber: Ich glaube. Das ist die Sprache des Advokaten, man kann sich immer hinausreden: Ich habe ja nicht gesagt, es wäre wahr, ich habe nur gesagt, dass ich das geglaubt habe. So verdunstet jede Bedeutung. Die Beamten schrien ihre Fakten herum, aber niemand wollte sie hören. Dasselbe war es mit dem Brexit. Die größte Entscheidung in unserer Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, aber sie haben nicht analysiert, was passieren würde!

STANDARD: Hätte bessere, klarere Kommunikation den Brexit vermeiden können?

Kennedy: Jüngst wurde der Armuts-Report zu Großbritannien des UN-Sonderberichterstatters Philip Alston veröffentlicht. Er zeigt, dass es in Großbritannien eine zunehmende Politik der Austerität gibt, die Menschen bestraft, die arm und schwach sind – dafür, dass sie arm und schwach sind. Ich habe selbst Freunde, die durch diesen Prozess gegangen sind. Das Sozialversicherungsministerium, für das auch Jon arbeitet, kümmert sich nicht mehr um die Probleme der Menschen, es sorgt dafür, dass sie noch mehr bekommen. Unglücklicherweise fielen diese Entwicklungen zeitlich mit dem EU-Beitritt Großbritanniens zusammen. Es war schwer zu erkennen, warum die Menschen plötzlich ärmer wurden, während gleichzeitig EU-Geld ins Land kam. Leider bekommt dieser Report nicht die Öffentlichkeit, die er bräuchte.

STANDARD: Weil zugleich auch ein Niedergang der Medienkultur stattfindet?

Kennedy: Das Auflösen gewerkschaftlicher Bindungen hat zu einem massiven Qualitätsverlust geführt. Es gibt viele Freiberufler, die entweder kein Geld bekommen oder zu wenig. Sie haben keine Zeit, keinen Zugang zu aktueller Forschung. Es ist einfacher, Pressemitteilungen abzudrucken, als die zeitaufwendige Arbeit eines Journalisten, einer Journalistin zu zahlen. Erst langsam füllen Journalistinnen wie Carole Cadwalladr diese Lücke, die im Guardian illegale Aktivitäten rund um den Brexit aufgedeckt hat.

STANDARD: Cadwalladr hat auch über die Verbindungen zwischen den "bad boys of Brexit" und Russland berichtet. Bräuchte es noch mehr investigativen Journalismus?

Kennedy: Wir wissen zum Beispiel nicht, welche Mitglieder des Parlaments für Putin arbeiten. Es gab immer eine starke Unterwanderung des britischen Geheimdiensts durch KGB-Spione, etwa die sogenannten Cambridge Five während des Zweiten Weltkriegs. Und wir haben keinen Grund zur Annahme, das hätte aufgehört. Auch Theresa Mays Verhalten ergibt eigentlich nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass sie ein russischer Posten ist. Während sie Innenministerin war, wurden allein acht Menschen in London auf mysteriöse Weise ermordet. Ganz zu schweigen von dem Polonium.

STANDARD: Wie, befürchten Sie, wird es weitergehen – für Großbritannien, besonders für den Kunstsektor?

Kennedy: Ich hoffe, es gibt eine zweite Abstimmung, bei der die Fakten stärkere Beachtung finden. Was ich fürchte, ist, dass es keinen Deal gibt oder eine Verlängerung des Prozesses, was Spekulanten und Hedgefonds in die Hände spielen würde. Schon jetzt sind viele Unternehmen umgesiedelt oder beschädigt worden, EU-Bürger werden als Geiseln missbraucht. Besonders der Kunst- und Kultursektor ist auf die EU angewiesen. In diesem Bereich, der ohnehin sehr unter Druck steht, würde der Austritt zu einem unvorstellbaren Desaster führen. (Andrea Heinz, 24.11.2018)