Liliana Furió (mit weißem Shirt) gründete als Tochter eines argentinischen Offiziers eine Gruppe, die die Verbrechen der Eltern aufarbeitet.

Foto: STANDARD/Camilla LANDBØ
Ein normales Leben, das war es für mich. Wir lebten in einer Militärsiedlung in der Provinz Mendoza. Ich tummelte mich draußen mit den Kindern der anderen Militärs herum, spielte Tennis im Klub. Liebevoll war mein Vater nie, sondern autoritär und machistisch, er bestrafte mich und meine Geschwister mit Schlägen. Ich war 13 Jahre alt, als die Diktatur begann. Vielleicht war mein Vater zu jener Zeit nervöser als üblich. Einmal sagte er: Wir sind im Krieg mit Terroristen, die man töten muss, bevor sie uns töten. Ansonsten sprach er nie über seine Arbeit.

Liliana Furió ist die Tochter eines Verbrechers: Während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 war ihr Vater in der Provinz Mendoza Geheimdienstchef der Armee. Sozial engagierte und linksgerichtete Politiker, Intellektuelle, Künstler, Lehrer, auch Geistliche, wurden verfolgt, gefoltert und ermordet. Von zahlreichen Opfern wurden die Leichen nie gefunden. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass um die 30.000 Menschen getötet wurden.

Als die Diktatur vorbei war, erfuhr man mehr und mehr von den Verbrechen. Mein Vater winkte ab, die Menschenrechtsorganisationen würden lügen, es sei nicht so heftig gewesen. Schon gar nicht in Mendoza. Er schob alles auf seine Untergebenen. In einem Krieg gebe es nun mal Exzesse. Er habe ja nicht jeden Soldaten kontrollieren können. Ich wollte ihm glauben.

Mit Ende der Diktatur wurde die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen in den 80er-Jahren zunächst erfolgreich vorangetrieben. Es kam auch zu Prozessen. Zunehmend starker Gegenwind und die Drohung eines erneuten Putsches veranlassten die Regierung jedoch, Zugeständnisse an das Militär zu machen. Erst unter der Präsidentschaft von Néstor Kirchner (2003–2007) wurden wieder Prozesse eröffnet.

Zu dieser Zeit lebten wir wieder in Buenos Aires. Sie klingelten an der Tür und holten meinen Vater ab. Ende 2008. Sie brachten in nach Mendoza und stellten ihn vor Gericht. Hier fing ich endgültig an zu recherchieren. Ich las, was ich finden konnte. Allmählich erfuhr ich mehr über meinen Vater. In Mendoza waren Menschen entführt, gefoltert und Babys den Regimegegnerinnen entrissen worden, bevor man die Mütter umbrachte. Mein Vater war Befehlshaber! Ich verspürte nur noch Schuld und Scham.

Wenn die Militärs schwangere Frauen festnahmen, erhielten diese in der Regel eine "exklusive" Behandlung, in der sie besser versorgt wurden als andere Regimegegner, die darbten. Es ging allerdings allein darum, dass die Mütter gesunde Kinder auf die Welt bringen. Kaum waren die Babys geboren, übergab man sie fremden Familien. Man geht von über 500 geraubten Babys aus. Die Großmütter dieser Neugeborenen machten sich auf die Suche nach ihren Enkelkindern. Bis heute haben sie 128 Enkel gefunden, meist durch Hinweise ehemaliger Gefangener und am Ende mittels DNA-Probe.

Furió, heute 55-jährige Mutter von drei Kindern, fühlte sich all die Jahre sehr einsam mit ihrer familiären Geschichte. Mit wem auch hätte sie darüber sprechen sollen, wer ihr Vater ist und was er getan hat? Bis sie eines Tages Analía Kelinec kennenlernte, ebenso Tochter eines Diktaturschergen. Die zwei Frauen gründeten vor einem Jahr gemeinsam die Gruppe Historias Desobedientes (Ungehorsame Geschichten, Anm.). Über das Internet fanden sie weitere Töchter und Söhne, die allein litten. Jetzt zählt die Organisation über 80 Personen. Heuer marschierten sie mit den Angehörigen der Verschwundenen erstmals offiziell durch Buenos Aires – um ihre Solidarität zu zeigen.

Mein Vater wurde bislang zweimal zu lebenslanger Haft verurteilt, weitere Prozesse laufen. Da die Gefolterten in der Regel Augenbinden trugen, hat ihn niemand – etwa mit einem Elektroschocker – gesehen. Aber gut möglich, dass er bei Folter dabei war. Seine Mitschuld an den Verbrechen ist durch seinen hohen Rang unbestritten.

Die Dokumentarfilmerin Furió kann keine Beweise gegen ihren Vater vorlegen, da sich dieser immer über seine Taten ausschwieg. Andere Kinder der Schergen können aber sehr wohl über die Verbrechen ihrer Väter berichten.

So erzählte ein Militärarzt seinem Sohn, dass er Regimegegnern Betäubungsspritzen setzte, bevor man sie aus dem Flugzeug ins Meer in den Tod warf. Der Sohn darf jedoch als Zeuge das Geständnis nicht vor Gericht vortragen. Das Gesetz verbietet, dass Kinder gegen ihre Eltern aussagen.

Gesetzesänderung beantragt

Diesen Umstand will die Gruppe ändern. Im November beantragte sie im Parlament eine Änderung des Strafgesetzbuchs. Die Töchter und Söhne wollen mit ihren Aussagen dazu beitragen, die Menschenrechtsverbrechen aufzuklären.

Und Furió? Sieht sie ihren Vater noch?

Er ist heute 85 Jahre alt, dement und steht unter Hausarrest. Als er noch gesund war, bat ich ihn 2013 inständig darum, dass er bei der Aufklärung mithilft. Er antwortete, dass er überhaupt nichts bereue. Eines ist sicher, der Schmerz, den ich als Tochter eines Mörders habe, wird mich bis an das Ende meines Lebens begleiten. (Camilla Landbø aus Buenos Aires, 26.11.2018)