320 lautet die magische Zahl. So viele Stimmen benötigt Theresa May, um ihr Brexit-Abkommen durch das britische Parlament zu bekommen. Nach einer Mehrheit für den Plan der britischen Premierministerin sieht es derzeit nicht aus, doch da die Abstimmung erst am 11. Dezember stattfindet, könnten einige Abgeordnete noch ihre Meinung ändern. DER STANDARD hat die Abstimmungstendenz einzelner Gruppen von Mandatarinnen und Mandataren zusammengefasst.


TORIES (316 Abgeordnete)

Die größte Einzelgruppe unter den Tory-Abgeordneten, insgesamt rund 150 Parlamentarier, steht hinter dem von May ausverhandelten Deal und wird ihn im Parlament auch unterstützen. Die sogenannte Brexit Delivery Group sieht ähnlich wie May in dem Abkommen die einzige Möglichkeit eines geregelten Ausstiegs aus der EU.

Theresa May bemüht sich um eine Mehrheit für den von ihr mit der EU ausverhandelten Deal.
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Die European Research Group (ERG) hingegen – eine Gruppe konservativer Hardliner, teils ehemalige Minister – hat in der jüngsten Vergangenheit kein gutes Haar an dem aktuellen Deal gelassen. Sie plädieren für einen Freihandelsvertrag mit der EU oder einen Austritt ohne Abkommen. 51 Abgeordnete haben ihre Ablehnung für den Deal bereits innerhalb der Kampagne "StandUp4Brexit" öffentlich kommuniziert, insgesamt könnten es bis zu 85 Volksvertreter werden. Prominente Deal-Gegner sind etwa die Ex-Minister Boris Johnson, David Davis oder Steve Baker sowie der erzkonservative Hinterbänkler und May-Gegner Jacob Rees-Mogg. Sechs weitere konservative Abgeordnete stehen hinter einem zweiten Referendum und werden sich deshalb ziemlich sicher ebenfalls gegen das Abkommen stellen.

Knapp 90 Konservative haben sich noch nicht eindeutig festgelegt, darunter sind rund 65 Brexit-Befürworter und etwas über 20 "Remainer". May sucht Unterstützung aus diesen Reihen. Sie will Druck ausüben: Prominente Konservative sollen dazu motiviert werden, das Abkommen öffentlich zu unterstützen.

Acht Parlamentarier um die konservativen Ex-Minister Nick Boles und Nicky Morgan sowie den unabhängigen Ex-Labour-Abgeordneten Frank Field befürworten ein vorübergehendes Norwegen-Konzept ("Norway for now"). Sie lehnen den vorliegenden Deal ab, weil er ihrer Ansicht nach weniger Vorteile bringt als das Abkommen, das die Beziehung zwischen der EU und Norwegen regelt.

Insgesamt ergibt das: Rund 150 sichere Ja-Stimmen, etwa hundert Unentschlossene und mindestens 65 vermutliche Neins. Denkbar ist, dass May einige Abgeordnete, die zu Nein tendieren, zumindest zur Enthaltung motivieren kann.


UNIONISTEN (10)

Dazu kommt die nordirisch-unionistische DUP, die 10 Sitze hat und deren Abgeordnete die Tory-Minderheitsregierung Mays bisher stützen. Sie haben sich sehr kritisch zum geplanten Abkommen geäußert, weil sie auf Basis der im Detail unterschiedlichen Zollbestimmungen Nordirlands und dem Rest Großbritanniens Kontrollen fürchten. Zwar laufen noch Bemühungen aus dem Lager Mays, sie zu überzeugen – derzeit ist aber mit ihrer Ablehnung zu rechnen.

Wahrscheinlich, aber nicht sicher sind also: Zehn weitere Nein-Stimmen.


LABOUR (258)

Die meisten – schätzungsweise 240 – Labour-Abgeordneten sind proeuropäisch eingestellt, stellen sich hinter Parteichef Jeremy Corbyn und werden wohl mehrheitlichen gegen das Brexit-Abkommen stimmen. Sie spekulieren auf Neuwahlen oder ein zweites Referendum.

Bei rund 18 Labour-Abgeordneten ist ihr Stimmverhalten noch unklar. Dabei handelt es sich zum einen um langjährige "Brexiteers", die im aktuellen Deal die einzige Möglichkeit sehen, geregelt aus der EU auszutreten, sich damit aber gegen Parteichef Corbyn stellen würden. Zum anderen geht es um Abgeordnete, die Wahlkreise mit hohem Anteil an Brexit-Befürwortern vertreten, etwa Gareth Snell, Caroline Flint, Lisa Nandy und Laura Smith. Sie befürchten, mit ihrer Stimme gegen Mays Abkommen als Blockierer eines Austritts gesehen zu werden.

Fazit: Nach aktuellem Stand muss May wohl mit mindestens 150, viel eher aber 200 Nein-Stimmen von Labour rechnen. Etwa 60 Ja-Voter von Labour, eine aus Sicht Mays eher positive Annahme, muss das freilich nicht bedeuten: Auch Stimmenthaltungen sind möglich.


LIBERALDEMOKRATEN (12) und SNP (35)

Die klar proeuropäischen Liberaldemokraten haben ebenso wie die EU-freundlichen schottischen Separatisten weder am EU-Austritt ein gutes Haar gelassen noch an Deal Mays. Die Liberalen wollen mit ihrer Stimme schlicht den Brexit verhindern und ein zweites Referendum erzwingen. Die SNP – sie verweist auf 62 Prozent "Remain"-Stimmen beim Brexit-Referendum 2016 in Schottland – will dies ebenfalls. Darüber hinaus lehnt die Partei Mays Vorschlag aber auch wegen der Sonderrechte für Nordirland ab. Wenn eine andere Region die Möglichkeit bekomme, enger an der EU zu bleiben, dann solle dies auch das proeuropäische Schottland dürfen, argumentiert die Partei. So oder anders: Mit den insgesamt 47 Stimmen der beiden Parteien kann May nicht rechnen.

Weniger als 40 Nein-Stimmen aus diesem Lager wären eine Überraschung.

Die SNP unter Führung von Nicola Sturgeon will Mays Deal deshalb nicht unterstützen. In Schottland stimmten beim Referendum 62 Prozent für "Remain".
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REGIONALPARTEIEN UND ANDERE

Die größte verbleibende Fraktion wäre nach den Zahlen des Wahlergebnisses (sieben Sitze) die irisch-republikanische Sinn Féin. Deren Abgeordnete nehmen allerdings seit über hundert Jahren die ihnen zustehenden Sitze im Unterhaus nicht an, weil sie dafür einen Treueeid auf die britische Königin schwören müssten. Die Partei hat den Brexit-Deal allerdings als "am wenigsten schlechte" Option beschrieben, weshalb der irische Premier Leo Varadkar die Abgeordneten dazu drängte, ihre Sitze anzunehmen, um für das Abkommen zu stimmen. Die Partei lehnt dies aber weiter ab.

Die walisische Plaid Cymru (4 Abgeordnete) hat einer Werbetour Mays durch Wales bisher widerstanden und will gegen das Abkommen votieren.

Caroline Lucas, einzige Abgeordnete der britischen Grünen, will ebenfalls eine zweite Abstimmung. Dem Deal Mays mit Brüssel will sie ihre Unterstützung versagen.

Zudem gibt es sechs Abgeordnete, die für die Tories und Labour gewählt wurden, aber seither ihre Partei verlassen haben oder aus der Fraktion ausgeschlossen wurden (#MeToo, Rassismusskandal und Protest gegen Antisemitismus bei Labour). Ihr mögliches Stimmverhalten ist allerdings bereits bei den ungefähren Schätzungen der jeweiligen Parteien (oben) eingerechnet.

Fünf Nein-Stimmen und eine abwesende Sinn-Féin-Partei: Für May ist hier wohl nichts zu holen.

Die (sehr) grobe Schätzung der Stimmen ergibt derzeit etwa 275 Nein- und maximal 210 Ja-Stimmen. Etwa 165 Abgeordnete sind – im weitesten Sinne – unentschlossen. Allerdings: Noch laufen die Verhandlungen zwischen den Parteien und die Kampagnen, mit denen May sich doch noch die nötigen Stimmen sichern will. Verschiebungen bis zum 11. Dezember sind nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich. (Noura Maan, Manuel Escher, 30.11.2018)