Magnus Carlsen (links) geht gegen Fabiano Caruana als klarer Favorit ins Tiebreak.

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London – Das Publikum traut seinen Augen nicht. Schachweltmeister Magnus Carlsen hat in der zwölften Partie der Schach-WM soeben mit seinem 31. Zug remis angeboten. Sein Herausforderer, Fabiano Caruana, hat nach kurzem Nachdenken akzeptiert.

Es ist das zwölfte Remis in der zwölften Partie des Wettkampfes, ein unrühmlicher Rekord. Aber nicht deshalb sind die Zuschauer schockiert. Vielmehr versteht niemand, warum in aller Welt Carlsen in dieser letzten regulären Partie eine Stellung nicht weiterspielt, die ihm gute Gewinnchancen bei keinerlei Verlustrisiko verspricht – und das mit einem komfortablen Bedenkzeitvorsprung auf der Uhr. Ist der Weltmeister krank?

Carlsen hoher Favorit

Carlsen selbst erklärt seine ungewohnte Friedfertigkeit später mit der Matchsituation: "Ich hatte zu diesem Zeitpunkt nicht die richtige Einstellung, um auf Gewinn zu spielen." Mit dem Vorsatz, mit Schwarz kein Risiko einzugehen und Remis zu machen, ist der Norweger zur Partie erschienen. Daran hat er sich gehalten, damit ist er zufrieden. Schließlich ist er im am Mittwoch zu spielenden Tiebreak (Mi. ab 16 Uhr im Liveticker) mit verkürzter Bedenkzeit hoher Favorit. Dass mitrechnende Computerprogramme und kommentierende Großmeisterkollegen seine Stellung als nahezu gewonnen einschätzten? "Ist mir egal", sagt der 27-Jährige so authentisch desinteressiert, wie er in diesem Match schon die meiste Zeit wirkt.

Sein Herausforderer ist zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich froh, doch noch einmal von der Schippe gesprungen zu sein. In der ersten und der letzten Partie des Matches, beide Male mit Weiß, hat Fabiano Caruana nur haarscharf eine Niederlage vermieden. In den übrigen Partien lief es eigentlich nicht schlecht für den Italoamerikaner. Für einen Sieg hat es aber auch nicht gereicht. Manchmal ließ der 26-Jährige die nötige Entschlossenheit vermissen, ohne die auch ein von seiner Bestform weit entfernter Carlsen nicht zu biegen ist.

Drei Wochen zähes Ringen ohne zählbares Ergebnis

Langweilig waren die Partien dieser WM mitnichten, die zwölf Remis sind aus sportlicher Sicht dennoch ein Desaster für das Schach. Drei Wochen zähes Ringen ohne zählbares Ergebnis, nur um den WM-Titel dann womöglich durch eine einzige Blitzpartie zu entscheiden? Es muss bessere Modi geben. Mehr klassische Partien bei weniger Ruhetagen wurden bereits vorgeschlagen, eine moderate Bedenkzeitverkürzung sowie die Verlegung des Tiebreaks auf den Match-Anfang erscheinen ebenfalls höchst plausibel. Dann stünde nämlich schon zu Beginn fest, wer bei unentschiedenem Score am Ende den Kürzeren zieht und daher mit Fortdauer des Matches mehr riskieren muss.

Das aber ist, wenn überhaupt, Zukunftsmusik. Die Schach-WM 2018 wird am Mittwoch ab 16h MEZ folgendermaßen entschieden: Zunächst spielen die Kontrahenten vier Schnellschachpartien mit je 25 Minuten Bedenkzeit plus zehn Sekunden Bonus pro Zug, wobei der Weltmeister in Partie eins die weißen Steine führt. Sollte es danach immer noch unentschieden stehen, wird geblitzt. Nach jeweils zwei Partien mit je fünf Minuten plus drei Sekunden Zugbonus wird abgerechnet.

Armageddon droht

Gibt es nach fünf derartigen Blitz-Minimatches noch keinen Sieger, droht das ganz offiziell so genannte "Armageddon": Über den Weltmeistertitel entscheidet in diesem Fall eine einzige Blitzpartie, in der Weiß über fünf, Schwarz nur über vier Minuten Bedenkzeit verfügt – wobei dem Nachziehenden dann ein Remis genügt, um Schachweltmeister zu werden. Wer die Farbe wählen darf, entscheidet vor dem Armageddon-Blitz das Los.

Möge Schachgöttin Caissa abhüten, dass es so weit kommt. (Anatol Vitouch aus London, 27.11.2018)