Markt in Accra: Afrika-Experte Rainer Thiele sieht Ghana als Beispiel für die Kombination aus stabiler Demokratie und wirtschaftlicher Entwicklung.

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STANDARD: Sie sind seit langem mit dem Thema Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Afrika beschäftigt. Seit 2015 gibt es viel mehr Aufmerksamkeit dafür. Können Sie das Wort Fluchtgründe noch hören?

Thiele: Nein. Es ist aus mehreren Gründen problematisch: zum einen, weil damit in der Diskussion Flucht und Migration zusammengewürfelt werden. Der Begriff nimmt also Trennschärfe aus der Diskussion. Und meistens werde ich außerdem hellhörig, weil ich glaube: "Ah, jetzt geht es wieder um Budgetverhandlungen beim Bundesministerium." Denn die offizielle Entwicklungszusammenarbeit wird momentan sehr stark auf diesen Begriff reduziert.

STANDARD: Man könnte aber auch sagen: Das alles hat zumindest den Fokus auf die Entwicklungszusammenarbeit gelegt.

Thiele: Also ich persönlich als Entwicklungsökonom und Afrika-Forscher freue mich natürlich sehr, wenn Afrika als Region im Mittelpunkt des Interesses ist. Manchmal kann ja auch der falsche Grund zu etwas Gutem führen. Und Afrika ist ja auch durchaus für die Wirtschaft eine interessante Region.

STANDARD: Ist es dann nicht ein Problem, dass der Fokus oft auf "Hilfe vor Ort" statt auf wirtschaftlicher Zusammenarbeit liegt?

Thiele: Was manchmal ein bisschen kurz kommt, ist die Tatsache, dass Entwicklungszusammenarbeit nur ein kleiner Teil der Unterstützung sein kann, dass es auch um Privatinitiativen geht. Das wird in der Diskussion, gerade mit Migration, häufig ein bisschen unterbelichtet.

STANDARD: Dazu passt das Ende Dezember in Wien geplante Afrika-Forum, das ja ursprünglich einmal unter dem Titel der Migration stand, mittlerweile aber eher die Vernetzung von Firmen zum Thema hat.

Thiele: Ich halte es für einen guten Ansatz, den Privatsektor stärker in die Pflicht zu nehmen. Dazu passen ja auch die "Compacts with Africa", die im vergangenen Jahr aus den G20 entstanden sind und die in eine ähnliche Richtung tendieren, den Privatsektor in Afrika zu fördern – auch mit ausländischen Investitionen. Beides geht in eine ähnliche, richtige Richtung.

STANDARD: Sind auch die Sektoren die richtigen? Das Afrika-Forum will auch stark auf Digitales setzen.

Thiele: Da wäre ich eher skeptisch. Man muss bedenken, dass die afrikanischen Länder untereinander sehr unterschiedlich sind. Für Kenia mag das passen, wo es schon viele Entwicklungen gibt und das beim Zahlen mit Handy im Vergleich zu Europa Vorreiter ist. Für andere nicht. Und es ist aber keine arbeitsintensive Industrie. Mit der Rolle, die zum Beispiel der Texitilsektor für Arbeitsplätze in Asien gespielt hat, kann man das also nicht vergleichen.

STANDARD: Wäre dieses Modell für Afrika heute noch gangbar?

Thiele: Es können nicht alle afrikanischen Länder im Textilsektor tätig werden. Äthiopien hat das getan und damit recht behalten. Ruanda hat aber zum Beispiel auf den Agrarsektor gesetzt. Mehr als in Asien, wo es ein Modell gab, ist es in Afrika eher ein Schauen auf die örtlichen Gegebenheiten. Manche könnten im Tourismus stark sein, andere haben vielleicht viel fruchtbaren Boden.

STANDARD: Ruanda und Äthiopien gelten als Musterbeispiele – und es sind zwei Staaten, die besonders für ein eher autoritäres Entwicklungsmodell stehen. Ist das Zufall?

Thiele: Es ist jedenfalls nicht systematisch. Es gibt viele Diktaturen in Afrika, die auch wirtschaftlich fürchterlich sind. Präsident Paul Kagame in Ruanda ist eine sehr spezifische Person, ein Entwicklungsdiktator, der sein Land voranbringen will – nicht immer mit den saubersten Mitteln. Ghana ist ein Gegenbeispiel: Die haben in den 1980er-Jahren reformiert, hatten dann eine relativ gut funktionierende Demokratie und haben bis vor ein paar Jahren stetes Wachstum von fünf Prozent und mehr gehabt.

STANDARD: Österreichs Kanzler Sebastian Kurz hat jüngst bei einer Diskussionsveranstaltung gesagt, es sei ein großes Problem, dass in Afrika die Bevölkerungszahl explodiere, während in Europa die Fertilitätsrate zurückgehe. Was halten Sie von der Aussage?

Thiele: Das ist sicher zu pauschal. Es wird in absehbarer Zeit hohes Bevölkerungswachstum in Afrika geben. Die Frage, ob sich das in höheren Migrationszahlen auswirkt, ist aber offen. Asiatische Länder haben gezeigt, dass es nicht so sein muss. Dort gab es irgendwann eine hohe Zahl von Leuten am Arbeitsmarkt, die haben Wachstumsraten erzielt, und die Migration spielte keine Rolle. Das kann in Afrika passieren und ist etwa in Äthiopien passiert: Das Land hat ein hohes Bevölkerungswachstum, aber sehr geringe Emigration. Die Leute wandern eher in die Städte, wo es Arbeit gibt: Und in Addis Abeba ist die Fertilitätsrate dann schon so ähnlich wie in Europa.

STANDARD: Wie erklären Sie, dass es ein so besonders emotionalisierendes Thema zu sein scheint?

Thiele: Das weiß ich auch nicht. Man muss auch sagen: Bevölkerungswachstum gab es in Afrika ja auch schon in den vergangenen Jahrzehnten, ohne dass Horden von Menschen nach Europa geströmt wären. Daher ist das alles sehr differenziert zu sehen – und es gibt große regionale Unterschiede. (Manuel Escher, 28.11.2018)