Niemand kennt seinen Namen, sein Alter oder weiß, zu welchem Stamm er gehört. Die brasilianische Behörde für indigene Angelegenheiten (Funai) ist sich aber sicher, dass er "der letzte Überlebende seines Stammes" ist. Fest steht auch, dass er mehrere Wellen von Attacken auf nichtkontaktierte Völker im brasilianischen Amazonas überlebt hat. Wilderer und Holzfäller hatten sich mit Bulldozern ihren Weg durch den unberührten Dschungel gegraben und dabei mehrere Stämme ausgelöscht.

Das ist eines der seltenen Bilder des "letzten Überlebenden seines Stammes" im brasilianischen Amazonas. Die brasilianische Behörde Funai nimmt keinen Kontakt mit dem Mann auf, weshalb das Bildmaterial auch unscharf ist.
Foto: AFP PHOTO / National Indian Foundation

Mit der tödlichen Attacke auf einen US-amerikanischen Missionar durch das unkontaktierte Volk der Sentinelesen auf einer der Andamanen-Inseln im Indischen Ozean ist das Schicksal der isoliert lebenden Stämme wieder in die Weltöffentlichkeit gerückt. Insgesamt mehr als 100 solcher Völker soll es weltweit noch geben. Die große Mehrheit von ihnen lebt im Amazonasgebiet Südamerikas. Nur von einem Stamm in Paraguay weiß man, dass er nicht mehr in den Wäldern lebt.

Die letzten unkontaktierten Völker leben im Amazonasgebiet, auf Neuguinea und auf den Andamanen.
Grafik: Standard, Quelle: Survival International

Wenige Informationen aus Westpapua

"Auch auf Westpapua gibt es noch unkontaktierte Völker", sagt Jonathan Mazower von der Hilfsorganisation Survival International, die sich dem Schutz indigener Bevölkerungen verschrieben hat, dem STANDARD. "Doch von den Menschen auf Westpapua weiß man wenig, da die Besatzungsmacht Indonesien keine Anthropologen auf die Insel lässt und selbst keine Informationen veröffentlicht."

Einen weltweiten Schutz der isoliert lebenden Indigenen gibt es de facto nicht. Die einzige Übereinkunft, die sich ihrer annimmt, ist die Resolution 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die indigenen Völkern das Recht auf ihr Land und ihre Selbstbestimmung zuspricht. Diese wurde aber nur von 22 Ländern weltweit ratifiziert. Unter anderen Australien, Kanada, Neuseeland und die USA fehlen auf der Liste.

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Eine Luftaufnahme einer traditionellen Hütte eines unkontaktierten Volkes in Brasilien.
Foto: FUNAI via AP

Rassismus des neuen Präsidenten

Und obwohl sich Brasilien dem Schutz der nichtkontaktierten Völker verschrieben hat, könnte das Vorhaben mit der Wahl des neuen Präsidenten Jair Bolsonaro einen herben Rückschlag erleiden. Immer wieder hat er sich offen rassistisch über die indigene Bevölkerung des Landes geäußert: "Es ist eine Schande, dass die brasilianische Kavallerie nicht ähnlich effizient wie die US-amerikanische war, die ihre Indianer ausgelöscht hat." Bolsonaro will den Indigenen keinen Millimeter mehr Land zugestehen, hielt er wiederholt fest. Außerdem drohte er damit, Funai zu schließen.

Sollten die nichtkontaktierten Völker dazu gezwungen werden, sich in die Gesellschaft der Außenwelt zu integrieren, könnte das fatale Folgen für sie haben, sagt Mazower: "Es gibt mehrere Beispiele, in denen die Indigenen sich schließlich am Rand der Gesellschaft befunden haben." Außerdem sind ihre Organismen nicht gegen die Krankheiten der Außenwelt immun. Im Norden Brasiliens raffte eine Masernepidemie dutzende Mitglieder der Yanomami dahin. Eingeschleppt wurde die Krankheit durch illegale Goldschürfer.

Drei Männer eines unkontaktierten Volkes nehmen zum ersten Mal Kontakt mit der Außenwelt auf.
BBC News

Krankheiten und Gewalt

Angriffe auf isoliert lebende Stämme sowie eingeschleppte Krankheiten haben in den vergangenen Jahren immer wieder dazu geführt, dass die Indigenen Kontakt mit der Außenwelt gesucht haben. Auf Videos von Funai ist etwa zu sehen, wie im Jahr 2014 drei Männer in Lendenschurzen durch einen seichten Fluss im brasilianischen Bundesstaat Acre waten und versuchen, mit den Bewohnern am Ufer zu kommunizieren. Spätere Übersetzungen der Konversation legen nahe, dass sie von Drogenschmugglern und illegalen Holzfällern attackiert worden waren. Anschließend versuchten sie Kleidung und Decken der Bewohner mitzunehmen, was ein anwesender Anthropologe versuchte zu verhindern. Die Bakterien auf den Textilien wären zu gefährlich für die Indigenen gewesen.

Laut Mazower ist es ein Mythos, dass die Angehörigen der unkontaktierten Völker keine Ahnung von der Außenwelt haben. "Oft wurden sie von sogenannten Entdeckern kontaktiert und mit Gewalt konfrontiert", erzählt er. "Das hat sich in ihr kollektives Gedächtnis eingeprägt, und sie haben sich entschieden, isoliert zu leben."

Die Jarawa werden durch den Tourismus unter Druck gesetzt.
FRANCE 24 English

Tourismus als Gefahr für Jarawa

Welche Auswirkungen der Kontakt mit der Außenwelt noch haben kann, zeigt sich an einem mit den Sentinelesen verwandten Volk. Die Jarawa leben ebenfalls auf den Andamanen-Inseln, teilen sich die Insel aber mit Indern, die vor rund 200 Jahren dorthin gezogen sind. Obwohl die indische Regierung die rund 400 verbleibenden Jarawa schützen soll, drängt der Tourismus immer weiter in ihr Stammesgebiet. Täglich fahren Karawanen an Besuchern in das Territorium des Volkes und fotografieren und filmen die Menschen wie Tiere im Zoo. Wilderer jagen die wildlebenden Schweine, die die Grundnahrung der Indigenen darstellen, und bieten ihnen dafür Alkohol und Tabak an. Berichte von Gewalt und Vergewaltigungen mehren sich.

Um die verbliebenen unkontaktierten Völker zu schützen, braucht es laut Mazower strenge Gesetze mit harten Strafen und den Schutz des jeweiligen Stammesgebiets. Notfalls auch durch Soldaten und Polizisten: "Was immer nötig ist, um den Verlust dieser menschlichen Diversität zu stoppen", sagt Mazower. (Bianca Blei, 29.11.2018)

Der 26-jährige John Allen Chau wurde auf den indischen Andamanen-Inseln von einem isolierten Inselvolk getötet.
DER STANDARD