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Foto: Cineplexx

Im Kinosaal der Zukunft zu sitzen, bevor die Vorstellung losgeht, ist ein verwirrendes Erlebnis. Gewohnt, die Augen über Architektur und Sitzreihen wandern zu lassen, findet man plötzlich keine Anhaltspunkte mehr. Keine geometrischen Formen an den Wänden. Keine metallenen Schrauben und Leisten. Keine roten Samtsessel in den Reihen. Alles ist schwarz. Erwartungsvoll richtet man den Kopf zurück, um das Anwerfen des Projektors zu erleben, und prallt mit seinem Blick erneut auf eine dunkle Mauer. Links, rechts, oben, unten und hinten: Nichts lenkt von dem Spektakel ab, dass sich in wenigen Momenten vor einem ereignen wird.

Bewegtes Erlebnis: Geht es nach Kinobetreibern, sollen elektromagnetisch betriebene Sitze sowie die atmosphärische Simulation mit Nebel, Schneeflocken, Regen und Düften ein Zukunftsträger für Kinos sein.

Die totale Rundumbeschallung

Im Kinosaal der Zukunft strahlt kein Projektor mehr. Und anstelle der Leinwand erstreckt sich über die gesamte Front ein gigantischer Bildschirm, der Filme schärfer und kontrastreicher darstellt, als man es bisher kannte. Dort, wo einst Partikel reflektiert werden mussten, um das Bild sichtbar zu machen, leuchten nun Millionen einzelne Dioden, die es erlauben, Filme in 2D und 3D genauso darzustellen wie mit hohen Bildraten für superflüssige Verfolgungsjagden und Kameraflüge.

Und rund um einen herum, wo tiefes Schwarz ungewollte Reflexionen verschlingt, ertönt aus jeder Richtung ein Geräusch. Fliegen Vögel aus dem Bild heraus und an einem vorbei, lässt sich ihre Position noch mit dem Gehör genau eruieren. Nicht nur vorne, links und rechts und hinten. Überall, mit gespenstischer Präzision.

Im Film zieht ein Gewitter auf, Donner lässt den Saal erbeben. Wind streift das Gesicht, Wassertropfen benetzen die Haut. Man meint, jeden Moment nassgeduscht zu werden. Erleichtert, dass der Sturm mit der nächsten Szene wieder vorbeizieht, neigt man die Rückenlehne zurück und fährt die Beinstütze aus. Per Knopfdruck natürlich.

Ein Kinosaal ohne Projektor dank riesiger Bildschirme. Die ersten Modelle sind zehn Meter breit, doch es wird in Korea, Japan und China bereits an Screens mit 14, 17 und 20 Metern Breite gearbeitet. Der größte Vorteil: Das Bild ist schärfer und die Kontraste weit höher als bei Leinwänden.
Foto: Sony

Der große Umbruch

Was nach Zukunft klingt, ist zumindest vereinzelt schon heute Gegenwart. Kinobetreiber und die Filmindustrie haben in den vergangenen Jahren Technologien für sich entdeckt, die das Erlebnis von der gewohnten audiovisuellen Beschallung zu einer alle Sinne umfassenden Unterhaltungsform transformieren sollen. Ein Wandel, der weltweit Milliardeninvestitionen erfordert und Besucher nicht nur dazu bringen soll, öfter ins Kino zu gehen, sondern auch bei jedem Besuch mehr auszugeben. Eine Veränderung, die bereits auch an immer mehr Spielstätten in Österreich zu vernehmen ist.

Angefangen hat alles in den 1990ern, erklären Geschäftsführer Christian Langhammer und Finanzchef Christof Papousek des österreichischen Kinobetreibers Cineplexx. Damals erkannte man den Trend weg von kleinen Standorten hin zu großen Zentren. Seit Anfang der 2000er machte der Industrie die rasche Verbreitung des digitalen Filmvertriebs und von immer größeren Fernsehern sowie immer günstigeren und praktikableren Heimkinosystemen zu schaffen. Die Erkenntnis: Es muss zunehmend mehr geboten werden, um Menschen vor die Leinwand zu bringen.

Nach der Generationsablöse von Stereo- zu Surroundsound, vom analogen zum digitalen Film und neuen und neu entdeckten Spielarten wie 3D stehen nun mit hochauflösenden RGB-Laserprojektoren, gigantischen LED-Screens, positionsgesteuertem Sound und 4D-Erlebnissen abermals Technologiesprünge an. Gleichzeitig wird der Kinogänger mit Komfort gelockt, mehr als bisher für sein Ticket auszugeben.

Laut den Cineplexx-Managern Langhammer und Papousek sind Kinotickets nach wie vor der wichtigste Umsatzbringer für die Betreiber. Marktforschern nach bescheren hochpreisige Snacks und Getränke dank satter Margen jedoch einen Großteil der Profite. Denn die Ticketeinnahmen müssen sich Betreiber mit den Filmstudios teilen.
Foto: Cineplexx

Economy bis First Class im Kino

Mehrere Sitzklassen – vom breit gepolsterten Stoffsessel bis hin zum Ledersitz und dem elektronisch verstellbaren Luxusplatz im akustischen Sweetspot – gibt es etwa im neuen Hauptsaal des Standorts Wienerberg zu wählen. Flagship-Laserprojektion und Dolby-Atmos verwöhnen Auge und Ohr. Ein paar Säle weiter wartet der mit zehn Metern Diagonale vergleichsweise kleine, aber mit neun Millionen Pixeln sichtbar schärfere und kontrastreichere Onyx-LED-Screen auf Besucher. In Graz wiederum wurde der erste MX4D-Saal Österreichs errichtet, um aktuelle Blockbuster mit elektromagnetisch bewegten Sitzen, Sprühnebel, Schneeflocken, Wind und Düften greifbar zu machen.

750.000 Euro für einen Screen

Technologien und Renovierungen, die Cineplexx allein am Standort Wienerberg 4,5 Millionen Euro kosteten. Der vom koreanischen Multi Samsung produzierte Onyx-LED-Screen, der weltweit aktuell erst in zwei Dutzend Kinos eingesetzt wird, veranschlagte für sich schon 750.000 Euro. Ein Kosten für ein RBG-Laser-System, wie sie bei den modernsten und größten Leinwänden zum Einsatz kommen, belaufen sich auf 350.000 Euro. Ein Dolby-Atoms-Soundsystem kostet 180.000 Euro – das Sechsfache einer gewöhnlichen Kino-Surroundanlage. Die elektrisch verstellbaren Ledersitze schlagen mit 2.500 Euro pro Stück zu Buche, das Zwölffache der normalen Sessel.

Laut Papousek verfolgt man damit eine Strategie, die international gefahren wird. Anstatt über niedrigere Preise und steigende Besucherzahlen mehr Umsatz zu machen, schrumpft die Anzahl an Sitzplätzen, die Sessel werden größer, und die Preise für Tickets steigen. Denn bei relativ konstanten zwei Kinobesuchen pro Jahr suchen Österreicher nicht die ständige Rundumbeschallung, sondern besondere Erlebnisse, die in den eigenen vier Wänden nicht reproduzierbar sind. So sei jedenfalls zu erklären, weshalb die um fünf Euro teureren Luxusplätze in den neuen Sälen stets zuerst ausgebucht sind.

Ein Blick hinter die Kulissen zeigt den Aufbau der riesigen LED-Wand. Die zusammengesetzten Screens sind wiederum in kleinere Segmente unterteilt, die sich bei einem Ausfall einer Diode oder einem anderen technischen Gebrechen einzeln austauschen lassen. Das soll die Wartung langfristig günstiger machen als jene von Projektionssystemen. Die Aufgabe der Vorführer verändert sich aufgrund der technischen Neuerungen ebenfalls hin zu generelleren Elektrotechnikern, wie Langhammer erklärt.
Foto: DER STANDARD / Zsolt Wilhelm

Konferenz im Kinosaal

Eine Strategie, die sich bislang als erfolgreich für die Branche erweist. Weltweit steigen die Einnahmen aus Ticketverkäufen, ebenso wachsen die Besucherzahlen, so Marktforscher Statista. Die Investitionen würden sich also langfristig rechnen, selbst wenn sich Anschaffungen wie LED-Screens erst nach zehn Jahren rentieren würden – bis eben der nächste Technologiesprung ansteht. Gleichzeitig helfen derartige Innovationen dabei, Kino im Gespräch zu halten, und ermöglichen neue Geschäftsideen, erklärt Papousek.

Während Hersteller wie Samsung oder Sony daran arbeiten, die Wirtschaftlichkeit durch längere Betriebszeiten, günstigere Ersatzteile und Skalierung konsequent zu steigern und mit immer größeren LED-Screens langfristig Leinwände und Projektoren zu ersetzen, nutzen Kinobetreiber die Technologie in der Zwischenzeit zudem für Geschäftskunden. Denn aufgrund der hohen Leuchtkraft können die Screens selbst für Präsentationen am helllichten Tag (oder in hell beleuchteten Innenräumen) genutzt werden. Dadurch kann man nun Kinosäle für cineastische Firmenevents genauso wie für Vorträge und Konferenzen vermieten.

Neue Designkonzepte gegen Vandalismus

Diese Neuausrichtung an ein anspruchsvolleres Publikum macht sich zudem am Ambiente bemerkbar. Ohne auf die eigene Signatur zu verzichten, fügen sich die einstigen Lichtspieltheater heute in den umliegenden Standort ein – sei dies ein Bürokomplex oder ein Einkaufszentrum. Sofalandschaften dienen Besuchern wie Passanten zur Rekreation. Nicht auf vielen kleinen, sondern auf einem riesigen Bildschirm werden die neuesten Trailer gezeigt. Für die Besucher und für die Gäste des Restaurants dreißig Meter weiter.

Dieses neue Designkonzept ist kein bloßer Vermarktungstrick, sondern steigere gleichzeitig die Sicherheit, erklären Langhammer und Papousek. Ein überarbeitetes Designkonzept für einen ihrer "Problemstandorte" in Wien, an dem es immer wieder zu Vandalismus kam, führte zur Bereinigung der Probleme. Das Sicherheitspersonal musste dabei nicht aufgestockt werden.

Trotz Netflix und immer erschwinglicheren Heimkinosystemen: Weltweit steigt der Umsatz mit Kinotickets, und auch die Besucherzahlen wachsen weiter. Der Trend geht allerdings hin zu weniger Sitzplätzen pro Saal und steigendem Komfort für Besucher, die bereit sind, diese Mehrleistung zu bezahlen.
Foto: Statista

Undenkbar, aber nicht in Österreich

Während Trends wie die Reduktion der Sitzplätze bei gleichzeitiger Verbesserung des Angebots international zu vernehmen sind, kann über das Sehverhalten der Konsumenten nicht das Gleiche gesagt werden. Während in den USA beispielsweise das Interesse an 3D-Vorstellungen rückläufig ist, setzen Österreicher weiterhin sehr gerne Polarisationsfilterbrillen auf, um Superhelden und Animationsfilme räumlich wahrnehmen zu können.

Weiters steigt die heimische Nachfrage nach Filmen mit Originalvertonung. Das mache sich laut Cineplexx ebenso durch die wachsenden Besucherzahlen in englischsprachigen Kinos bemerkbar wie durch die populären OV-Vorstellungen in den großen Kinozentren.

Eigen sind die Österreicher nicht zuletzt bei der Buchung von Tickets. Sind es heimische Besucher etwa gewohnt, Karten unverbindlich reservieren zu können und bei Nichtbedarf an der Kassa nicht annehmen zu müssen, sei dies in anderen Ländern undenkbar. Mit ein Grund, weshalb erst jedes dritte Kinoticket in Österreich online erworben wird.

Kino vs. Netflix?

Das sich generell wandelnde und steigende Interesse an Filmen beschäftigt Kinobetreiber und Filmstudios gleichermaßen, die sich die Ticket-Einnahmen 50:50 teilen. Auf die 350 Cineplexx-Säle in Europa kommen beispielsweise zwölf Programmgestalter, die das Interesse an Filmen analysieren und Vorstellungen der Nachfrage entsprechend bespielen. Eine logistische Aufgabe, die mit der Digitalisierung des Filmmaterials zwar schneller und zentral lösbar wurde, durch die wachsende Anzahl an Produktionen heute jedoch nicht unbedingt weniger komplex ist als früher. Studios würden mittlerweile versuchen, für jede Nische Filme zu drehen, was laut Papousek zu einem Überangebot führe und die Laufzeiten verkürze.

Die weltweite Revolution der Streamingdienste mache den Kinobetreibern wiederum weniger Kopfzerbrechen, als man es anfangs vermutete. Zwar haben Netflix und Co das Rennen um die Massen längst gewonnen und beschallen Menschen zu Hause oder unterwegs am Handy oder Tablet mit immer mehr Filmen und Serien, der Statistik nach gehen Papousek zufolge aber ausgerechnet die Vielstreamer überproportional oft ins Kino. Das Gemeinschaftserlebnis Kino und die private Beschallung auf Bedarf könnten also gut in Koexistenz leben.

Technische Neuerungen sind weiter kein Garant für Erfolge. Der erfolgreichste Kinofilm in Österreich ist nach wie vor mit 2,2 Millionen Besuchern "Der Schuh des Manitu".
Foto: Der Schuh des Manitu

"Schau, schau: Schoschonen!"

Bei allen technischen Innovation bleiben Inhalte aber der entscheidende Faktor – fürs Kleinformat wie fürs Kino. In den USA und in Frankreich beispielsweise gehen Konsumenten aufgrund der starken nationalen Filmszene deutlich öfter ins Kino als in Österreich und Deutschland. Und während 3D und Animationskünste satte 1,8 Millionen österreichische Besucher in "Avatar" lockten und künftig hochauflösende Riesen-LED-Screens, 4D- und irgendwann auch Multileinwände und Hologramme Menschen ins Kino holen werden, sollte einem bis dahin immer zu denken geben, welcher Kinofilm in Österreich mit 2,2 Millionen Besuchern nach wie vor der erfolgreichste ist: "Der Schuh des Manitu".

Keine Revolution ist sicher

Und selbst die ausgefeilteste Technologie ist kein Erfolgsgarant. Blockbuster-Produzent James Cameron prognostizierte 2010, dass 3D-Filme in vier Jahren Standard sein würden. 2018 sind TV-Hersteller von der 3D-Vermarktung wieder gänzlich abgekommen, und auch längst nicht jeder Kinofilm wird dreidimensional ausgestrahlt. Noch schneller verhallte der 2013/2014 aufgekommene Hype um Virtual Reality. Damals wurde bereits von einer Ablöse der Großleinwände gesprochen. Doch ob der technischen Unausgereiftheit der Systeme wurde selbst diese so logisch erscheinende audiovisuelle Revolution vertagt. Bis heute locken Kinos mit oder ohne Projektoren mit Größe, Soundgewalt und technischen Spektakeln, die sich in den eigenen vier Wänden nicht realisieren lassen. (Zsolt Wilhelm)