Vater und Tochter bewegen sich ganz selbstverständlich inmitten der üppigen, saftig-grünen Natur. Jeder Handgriff sitzt, die gewaltigen bemoosten Bäume nehmen sich wie Schutzschirme aus. Die Routinen von Will (Ben Foster) und Tom (Thomasin McKenzie) vermitteln Harmonie. Sie deuten auch darauf hin, dass sich der Kriegsveteran, der offenbar an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, und seine Teenagertochter nicht nur auf einem Ausflug befinden, sondern für längere Zeit im Wald eingerichtet haben. Als Polizei und Sozialbehörden in das Naturschutzgebiet eindringen und die beiden aufspüren, scheinen sie zunächst eine Idylle zu zerstören.

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Haben sich für ein verstecktes Leben in der üppigen Wildnis Oregons eingerichtet: Thomasin McKenzie (li.) und Ben Foster als Tochter und Vater in "Leave No Trace".
Foto: AP / Scott Green

Gesellschaftliche Randzonen

Leave No Trace, der Titel von Debra Graniks neuem Film, benennt nicht nur das Ethos der Camper, die Natur nicht zu beschädigen, er verweist auch auf das Sich-unsichtbar-Machen, auf Marginalisierung. Wie schon in ihren ersten beiden Spielfilmen Down to the Bone (2004), der von einer heroinsüchtigen Mutter erzählt, und dem in den Ozark Mountains im ländlichen Missouri angesiedelten Winter's Bone (2010) rückt Granik die sogenannten Ränder der Gesellschaft in den Fokus. Gleichzeitig knüpft sie an das Thema ihres Dokumentarfilms Stray Dog (2014) über einen Biker, Vietnam-Veteranen und liebevollen Vater an. Erneut stellt sie Vorurteile auf den Kopf.

Granik versetzt uns in die Welt ihrer Protagonisten hinein. Die Sinnlichkeit, mit der sie die Natur Oregons bereits in den Eingangssequenzen in Bild und Ton fühlbar macht, wird auch den Menschen zuteil. Vieles wird durch Gesten erzählt.

Nach Jennifer Lawrence in ihrer Durchbruchsrolle in Winter's Bone ist es mit Thomasin McKenzie erneut eine junge Schauspielerin, die zum vibrierenden Zentrum des Films wird. Während die Vergangenheit der beiden Hauptfiguren weitgehend im Dunkeln, vieles unausgesprochen bleibt, erleben wir eine Geschichte, in der Annäherung und Entfremdung Hand in Hand gehen.

Trailer zu "Leave No Trace".
TRAILER CITY

Leave No Trace kommt ohne Zuspitzung auf vordergründige Gegensätze aus. Natur ist nicht nur Zufluchtsort, sondern setzt auch sehr reale Grenzen, innerhalb derer Hunger eine alltägliche Erfahrung ist. Selbst in den Enklaven von Outsidern, die sich in den Wäldern finden, bilden sich Mikrozivilisationen heraus.

Die Behörden, die Will und Tom wegen ihres illegalen Aufenthalts in dem in Stadtnähe befindlichen Naturschutzgebiet aufgreifen, bringen die beiden nach einem Verhör in einem Haus unter, das zu einer Christbaumfarm gehört. Wiederholt wird ihnen Gastfreundschaft zuteil, Will findet Arbeit. Während sich Tom öffnet, neue Erfahrungen sammelt, einen Jungen trifft, das Radfahren erlernt, ist für den Vater jeder Kontakt eine Anstrengung, die er sich der Tochter zuliebe abringt.

"Wir können noch immer unsere Gedanken denken", versichert er ihr und kann sein Leiden an der Zivilisation doch nicht verhehlen. Der Film steuert auf den Punkt einer schmerzlichen, aber unvermeidlichen Entscheidung zu. Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, wieweit wir Freiheit wählen können, wieweit wir uns ihrer Grenzen bewusst sind.

Wahrer Fall als Inspiration

Granik hat für ihren Film eine Romanvorlage adaptiert, die von einem wahren Fall inspiriert wurde: Ein Vietnam-Veteran hatte mehrere Jahre mit seiner Tochter unbemerkt im Wald gelebt, um nach seiner Entdeckung erneut von der Bildfläche zu verschwinden. Leave No Trace kann ob des spektakulären Falls keine Repräsentativität beanspruchen. Gerade in scheinbar beiläufigen Szenen wie dem Besuch einer Einrichtung für Veteranen gelingen aber aussagekräftige Schlaglichter, die über das Einzelschicksal hinausreichen. Mit Leave No Trace bestätigt Granik eindrucksvoll ihren Ruf als herausragende Vertreterin eines Sozialrealismus im jüngeren US-Kino. (Karl Gedlicka, 30.11.2018)