New York im Spätherbst: In der Messe-Location "Pier 94" fand die Aufzeichnung der Victoria's Secret-Show, des bekanntesten Dessous-Spektakels der Welt, statt. Zur Eröffnung des 20 Millionen Dollar teuren Events flimmert ein Video über eine überdimensionale Leinwand. Atemabschnürend schöne Models erklären, wie ihnen das Lingerie-Label geholfen hat, sich "strong" und "empowered" zu fühlen. "Wir bestimmen selbst, wie wir sein möchten – und nicht, wie Männer uns haben wollen."

Man würde der Glamour-Gala so gerne glauben, dass sie es ernst meint. Doch der Vorhang öffnet sich, die 60 "empowerten" Frauen staksen in knäpplichen Strings und Push-up-BHs, glitzernden Engelsflügeln und schulmädchenuniformenhaften Kniestrümpfen zu gürtelbreiten Röckchen über den Laufsteg und entlarven das Eingangs-statement als das, was es ist: ein gesinnungsmäßiges Feigenblatt. Victoria's Secret und das damit verbundene Frauenbild der ultrasexy "Engel" bleiben auch 2018 ein zeitgeistisoliertes Reservat.

Im Reich der Engel sieht es düster aus: Der Aktienkurs des Dessous-Unternehmens Victoria's Secret ist seit Anfang 2016 um mehr als 60 Prozent abgestürzt.
Foto: WireImage / Ron Galella

Überholtes Konzept

Lange ging das gut. Doch das Firmament verdunkelt sich. Im Geschäftsjahr 2017/18 sank das Nettoergebnis um 15 Prozent auf 983 Millionen Dollar. Nun ist eine knappe Milliarde Gewinn noch kein Beinbruch. Dennoch: Die Nettomarge fiel von 9,2 auf 7,8 Prozent. Trotz guter Konjunkturlage werden bis Ende des Jahres 20 der 1200 Filialen in den USA und Kanada gesperrt, auch im von Victoria's Secret erst 2017 als Hoffnungsmarkt erschlossenen China schwächeln die Geschäfte.

Der Aktienkurs des Unternehmens rasselt seit Anfang 2016 rasant die Himmelsleiter hinab, im November wurde die Dividende gekürzt. Dass wenige Tage nach der Aufzeichnung der TV-Show Vorstandschefin Jan Singer – wie schon kurz zuvor Denise Landman, Chefin der ebenfalls flügellahmen Jugendmarke Pink- ihren Stuhl räumen musste, spiegle die heillose Panik wider, meinen Analysten. Und prophezeien den endgültigen Niedergang des Wäschekonzerns.

Sowohl Marketingkonzept als auch Sortiment seien in Zeiten von #MeToo und körperbewusster Body-Positive-Bewegung heillos überholt, sagte Analyst Paul Lejuez in der "New York Times". Die anvisierte Zielgruppe der Millennials, die ihre Instagram-Posts mit dem Hashtag #FemaleEmpowerment versieht, bevorzuge Labels, die mit diverseren Models werben und statt Pölster-Bras lieber auf bequeme Unterwäsche setzen (siehe Runter mit den Pölstern!). Doch es wäre zu kurz gegriffen, veränderte Werte als Hauptgrund für den Zerfall des Reizwäsche-Imperiums zu nennen.

Ein großes Problem liegt in der Konzentration auf den stationären Handel. Hier stapeln sich BHs und Tangas, die auch im Schlussverkauf nicht über die Theke gehen. Trotzdem hält Les Wexner, Multimilliardär, Gründer, CEO, Aufsichtsrat und Hauptaktionär des Mutterkonzerns L Brands, am Storekonzept fest. 85 Prozent des Investitionsbudgets gab der 81-jährige dafür aus, Läden zu renovieren und neue zu eröffnen.

Auf sinkende Umsätze reagierte Victoria's Secret mit immer brutaleren Rabatten. Das kostet nicht nur Marge, das zerstört das Image. Verlängerte Sales, Drei-für-eins-Konzepte und Coupons erweckten den Eindruck, die Ware in den mit Parfümwolken vernebelten Stores würde verramscht.

Rudeltiere im Wäscheladen

In einem Interview mit der "Financial Times" sagte Wexner kürzlich, Menschen seien "Rudeltiere", die dorthin gingen, wo alle anderen seien: in die Läden. Während Kunden beim Online-Shopping genau wissen müssten, wonach sie suchen, ließen sie sich im Geschäft viel eher zu ungeplanten Käufen überreden. Das mag stimmen, klingt aber in Zeiten, in denen Labels via Instagram groß werden, wie ein Businessplan von anno dazumal.

Erstaunlich für einen Modekonzern, der wie kein anderer bereits seit Jahren die Social-Media-Kanäle orchestriert. Über Wochen wird durch Clips vom Modelcasting, dem harten Workout der Victoria's Secret-Engel (#TrainLikeAnAngel) bis zu Backstage-Einblicken ein virtueller Buzz rund um das Marketing-Herzstück des Konzerns, die Victoria's-Secret-Show, erzeugt.

Instagram-Star Gigi Hadid.
Foto: apa/afp/clary

In den Verträgen der Topmodels Candice Swanepoel, Elsa Hosk oder der Kärntnerin Nadine Leopold ist deshalb exakt festgehalten, wie viele Postings sie auf welchen Kanälen und unter welchen Hashtags abzusetzen haben.

Damit war Victoria's Secret eines der ersten Unternehmen, das den Wert des Influencer-Marketings erkannt hat – mit Erfolg. 2017 war Victoria's Secret mit mehr als 352 Millionen Likes, Comments und Retweets auf Facebook, Twitter und Instagram laut Branchenindex "The Social State Report" die beliebteste Handelsmarke im Social Web, weit vor Urban Outfitters (161 Millionen Interaktionen) und Forever21 (123 Millionen).

Dennoch hat die Strategie einen Haken, wie der Online-Marketingblog "Dash Hudson" vorrechnet: Nur ein sehr geringer Bruchteil der erzielten Impressions mündet in Einkäufe im Victoria's-Secret-Online-Shop. "Der exorbitante Einsatz von Marketinggeldern zeigt nur mehr geringfügigen Return of Invest", so Analyst Neil Saunders von Global Data Retail.

Die wunderschönen Models erreichen offenbar nach wie vor ihre Zuseher. Nur tragen die meisten von ihnen Herrenunterhosen. (Nana Siebert, 1.12.2018)

Weiterlesen:

Das war die Victoria's Secret Show 2018