Die Debatte um das Gymnasium ist vermutlich so alt wie das Gymnasium selbst. Die jüngste Wortmeldung dazu kam von Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck (ÖVP), die in den "Oberösterreichischen Nachrichten" eine stärkere Ausrichtung an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes forderte. Das forderte Bildungswissenschafter Stefan Hopmanns Widerspruch heraus.

Foto: Tobias Burger

Was soll das Gymnasium leisten? Was kann, was muss es leisten? Die Antworten fallen je nach Perspektive unterschiedlich aus.

Foto: Heribert Corn

Für viele Eltern, vor allem in den Städten und besonders extrem in Wien, ist es nachgerade die Rettungsinsel auf stürmischer See, auf die es den eigenen Nachwuchs mit allen Mitteln (und Beziehungen) zu verfrachten gilt. Auf dass nicht alles verloren ist, noch bevor "das Leben" überhaupt so richtig anfängt, dann, wenn Mama und Papa nicht mehr alles richten können. Rette sich, wer kann! "Bildungspanik", wie sie der deutsche Soziologe Heinz Bude konstatiert, macht sich breit. Der heilige Gral der Bildung hat einen Namen: das Gymnasium.

Was aber ist mit denen, für die Mama und Papa es schon jetzt nicht wirklich richten können? Weil sie arbeitslos sind oder "bildungsfern", weil sie arm sind oder sonst wie in prekäre Verhältnisse geworfen wurden oder sich selbst hineinmanövriert haben?

Für die war das Gymnasium sowieso nie wirklich gedacht, erinnert der Bildungswissenschafter Stefan Hopmann im STANDARD-Gespräch an die eigentliche Funktion dieser Schulform: "Historisch war das Gymnasium die Gesamtschule des Bürgertums."

Ab da muss man die Geschichte erzählen, wenn man ein Interviewzitat von Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck in den "Oberösterreichischen Nachrichten" verorten will. Die ÖVP-Politikerin sagte dort mit Blick auf den Fachkräftemangel und gefragt nach einer angeblichen "Überakademisierung" nämlich: "Mit vielen Studienrichtungen fangen die Unternehmen nichts an. Ich glaube auch, dass die Gymnasien oft am Markt vorbeiproduzieren. Es müsste viel früher aufgezeigt werden, was es in den Betrieben gibt."

Kunst des Selbstverstehens

"Welcher Markt?", fragt Hopmann, der an der Uni Wien Professor für historische und vergleichende Schul- und Bildungsforschung ist. "Die Gymnasien waren nie berufsvorbereitend, sondern dienten der Einführung in die bürgerliche Welt und in Weisen des Selbstverstehens – sprachlich, mathematisch, ästhetisch, religiös. Der Kern dieser Schule war und ist eben nicht ausgerichtet an zukünftigen Arbeitsmärkten, sondern an der Vermittlung dessen, was man unbedingt wissen muss, um in die Welt einsteigen zu können." Darum sei die Idee einer "Schule 4.0", die die "richtigen" Absolventen für die Industrie 4.0 unter dem Regime der Digitalisierung aller Lebensbereiche liefern solle, illusorisch, warnt er: "Wenn diese Schüler fertig sind, leben wir schon in der Gesellschaft 6.0."

Die "zweite Primärfunktion" des österreichischen und preußischen Gymnasiums war traditionell die Vorbereitung auf die Universität. Aber auch da gingen laut Hopmann "schon im 19. Jahrhundert viele vor der Matura vom Gymnasium ab, und nicht alle, die eine hatten, gingen an eine Uni, um zu studieren". Heute betrage das Zulieferverhältnis zu den Unis 2:1 zwischen berufsbildenden (BHS) und allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS).

Das "Kernprogramm" des Gymnasiums "war Anschlussfähigkeit und in die Gesellschaft einzutreten", betont Hopmann – und zwar an der gesellschaftlich zugedachten Stelle. Darum sei das Gymnasium auch nie der Ort gesellschaftlicher "Elitenproduktion" gewesen. "Der Chirurgensohn kam schon immer ins Gymnasium, auch wenn er nach intellektuellen Leistungskriterien nicht dorthin gehörte", erklärt der Bildungswissenschafter.

Schmuddelkinder raus!

Es ging und geht viel mehr um die Funktion des Gymnasiums als soziale Distinktionsmaschine, als sozialer Grenzmarker nach außen bzw. unten. Oder, formuliert Hopmann als Leitmotiv: "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern."

Die aber wollten mitspielen, und das war politisch ein Fehler oder "die historische Pointe der SPÖ, dass sie nicht die Abschaffung des Gymnasiums verlangt hat, sondern gleichen Zugang dazu wollte", meint der Bildungswissenschafter. Damit wurden die bildungspolitischen Strukturverhältnisse nämlich kaum in Bewegung gebracht. Warum? "Ich kann Segregationstendenzen in freien Gesellschaften nicht über Schulstrukturen unterbinden. Der Differenzierungstrick wird dann eben anders gelöst, etwa über private Schulen oder bestimmte Programme, die nur bestimmten Kindern ermöglicht werden."

Darum verhallten auch alle Rufe nach einem "Gymnasium für alle" ungehört. Egal, ob sie (überraschend und von der Parteispitze sofort als "persönliche Einzelmeinung" relativiert) von ÖVP-Seite kamen, wie 2010 etwa von der damaligen Wissenschaftsministerin Beatrix Karl, die die Bildungswegentscheidung damit von zehn, de facto neuneinhalb Jahren auf 14 verschieben wollte, oder von SPÖ-Repräsentanten wie dem früheren Wiener Bürgermeister Michael Häupl, der sechs Jahre später der traditionell mit einer Gesamtschulaversion ausgestatteten und, wie Häupl unterstellte, in einem "semierotischen Verhältnis zum Begriff Gymnasium" stehenden ÖVP ein "Gymnasium für alle" als Kompromiss anbot.

Kampf um Differenz

Wenig verwunderlich erfolglos. Und Hopmann desillusioniert alle, die sich von einer Gesamt- und Ganztagsschule die Lösung des Schulproblems erhoffen: "Das würde gar nichts lösen. Wir haben es hier mit einer rabiaten Klasse zu tun, die weiß, wie sie Differenz erhalten kann."

Was also tun in diesem Kampf um die besten Plätze im Bildungssystem, das als sozialer Platzanweiser fungiert? "Keine verlotterten Mittelschulreformen wie zuletzt, sondern, wenn wir etwas für die Modernisierung und den sozialen Frieden in diesem Land tun wollen, dann muss innerhalb der bestehenden Strukturen etwas getan werden, dass es mehr soziale Beteiligung aus unteren Schichten gibt." Mit anderen Worten: "Die Gymnasien müssen neben ihrer Exzellenz-Aufgabe auch stärker auf ihre Equality-Aufgabe verpflichtet werden, also darauf, dass sie sich stärker um die kümmern, die es brauchen", fordert Hopmann. "Jetzt überlassen die Gymnasien meist den anderen Schulen soziale Integrationsaufgaben und gesellschaftliche Bildung."

Wenn das nicht in Angriff genommen werde, warnt er, könnte aus dem alten Streit für oder gegen das Gymnasium eine gefährliche Schieflage entstehen – "eine Parallelgesellschaft, die sich die andere Seite gebaut hat, um denen, die sicherheitshalber auch ins Gymnasium drängen, nicht zu begegnen. Wollen wir das?" (Lisa Nimmervoll, 2.12.2018)