Bathybius haeckelii, der vermeintliche Urschleim des Lebens, in Ernst Haeckels Werk "Beiträge zur Plastidentheorie" von 1870.

Illustration: Ernst Haeckel [cc;3.0;by-sa]

Als Kapitän Joseph Dayman im Jahr 1857 mit seinem Schiff HMS Cyclops ausgeschickt wurde, die Natur des nordatlantischen Meeresbodens zu erforschen, hat er vermutlich nicht damit gerechnet, den Ursprung allen Lebens zu entdecken. Denn eigentlich ging es nur darum, die Tiefe des Ozeans zu bestimmen, durch den das erste transatlantische Telegrafenkabel verlegt werden sollte. Aber bei den Untersuchungen nahmen Dayman und seine Crew auch Schlammproben vom Meeresgrund, die dem britischen Biologen Thomas Henry Huxley zur Analyse übergeben wurden.

Huxley veröffentlichte seine Ergebnisse 1868 in einem Aufsatz mit dem Titel "On some organisms living at great depths in the North Atlantic Ocean". Mittlerweile hatte sein Kollege und Zeitgenosse Charles Darwin sein revolutionäres Buch "Über die Entstehung der Arten" publiziert, und Huxley wurde zu einem der engagiertesten Fürsprecher der neuen Evolutionstheorie. In Deutschland wurden Darwins Lehren damals besonders von Ernst Haeckel verbreitet und ausgebaut. Der Professor für Zoologie der Universität Jena veröffentlichte 1866 ein Buch mit dem Titel "Generelle Morphologie". Darin erweiterte er Darwins Evolutionsgedanken und spekulierte über die Existenz von Lebewesen, die er "Monera" nannte.

Protoplasma vom Meeresgrund

Dabei sollte es sich um die primitivste Form des Lebens handeln: um undifferenziertes Protoplasma ohne Zellkern. Diese primitive biologische, lebendige Masse sah Haeckel als Ursprung des Lebens an. Der "Urschleim" sei der Ausgangspunkt der Evolution, gleichsam der Übergang von Nichtleben zu Leben. Und genau dieses "Missing Link" hatte Huxley in den Proben des Meeresbodens des Nordatlantiks gefunden. Zu Ehren von Haeckel nannte er die Substanz Bathybius haeckelii, und sein deutscher Kollege war entsprechend erfreut über die Bestätigung seiner Vorhersage.

Endlich schien klar, wo das Leben entstanden war. Der gesamte Meeresboden, so stellte Haeckel es sich vor, sei mit diesem Urschleim bedeckt. Ein lebender Teppich aus Ur-Materie, der bis jetzt ungesehen von uns Menschen unter Wasser existiert hatte und aus dem alles Leben hervorging. Andere Biologen fanden und untersuchten Bathybius haeckelii nun ebenfalls, allerdings immer nur in Alkohol konservierte Proben. Was fehlte, war ein lebendes Exemplar des Urschleims. Das wollte man im Rahmen der Challenger-Expedition in den Jahren 1872 bis 1876 finden.

Reaktion mit Alkohol

Tatsächlich entdeckte man etwas anderes. Haeckels Monera zeigten sich nur und vor allem erst dann, wenn man die Schlammproben vom Meeresgrund mit Alkohol in Kontakt brachte. Die Wissenschafter der HMS Challenger stellten fest: Der Urschleim existiert gar nicht. Es handelte sich um eine simple chemische Reaktion des Schlamms mit Alkohol, bei der Calciumsulfat ausgefällt wird, was von Huxley fälschlicherweise als Monera identifiziert worden war.

Als der Chefwissenschafter der Challenger, Charles Wyville Thomson, diesen Befund 1875 per Brief an Huxley mitteilte, sah dieser den Irrtum schnell ein und erklärte Bathybius haeckelii zu einer imaginären Entdeckung. Ernst Haeckel dagegen wollte nicht von dem nach ihm benannten Ur-Leben lassen. Er argumentierte, dass die Monera vielleicht doch nicht den gesamten Meeresboden bedecken, sondern nur an bestimmten Orten vorkommen, weswegen die Challenger-Expedition nichts davon gefunden habe. Auch andere Wissenschafter hielten noch einige Zeit am Urschleim fest, aber der Glaube schwand. Haeckel hörte auf, Bathybius in seinen Schriften zu erwähnen, und mit Beginn des 20. Jahrhunderts war der Urschleim aus der Biologie verschwunden.

Gut, aber falsch

Der Irrtum von Huxley, Haeckel und ihren Kollegen ist klassisch und nachvollziehbar. Bathybius haeckelii war eine ideale Lösung für ein großes Problem. Vor Darwin konnte man sich noch getrost auf den Standpunkt zurückziehen, dass das Leben eben von Gott geschaffen worden war. Aber selbst nach der Publikation der Evolutionstheorie, die erklärte, wie sich die Vielfalt des Lebens durch Mutationen und natürliche Auslese entwickelt hatte, fehlte immer noch ein wichtiges Element. Niemand wusste, wie das Leben selbst aus nichtbelebter Materie entstanden war. Die Identifizierung des Ur-Lebens durch einen prominenten Biologen wie Huxley, vorhergesagt von einem ebenso prominenten Biologen wie Haeckel, war zu gut, um falsch zu sein. Aber falsch war sie trotzdem.

Irrtümer dieser Art gab es in der Wissenschaft immer wieder, und es wird sie auch weiterhin geben. Wir neigen dazu, immer genau dann nicht weiter nachzufragen, wenn wir eine (scheinbare) Lösung gefunden haben, die genau unseren Vorstellungen entspricht. Dabei sollten wir gerade dann besonders kritisch hinschauen. Wenn etwas zu gut ist, um wahr zu sein, dann ist es vielleicht auch nicht wahr. Aber der absolut menschliche Wunsch, die eigene Theorie bestätigt zu sehen, macht uns oft blind für Alternativen.

Wie Leben aus Nichtleben entstanden ist, ist heute immer noch unbekannt und Teil der biologisch-chemischen Forschung. Vielleicht finden wir irgendwann eine definitive Antwort, vielleicht können wir diesen Prozess dann sogar selbst im Labor nachvollziehen. Bis dahin werden wir aber sicher noch den einen oder anderen Irrtum aufdecken müssen. (Florian Freistetter, 4.12.2018)