Günther Gerhard erinnert sich.

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STANDARD: Vor einem Jahr hat Nicola Werdenigg schwere Vorwürfe gegen die Skisportschule Neustift erhoben. Es sei in den Siebzigern zu sexualisierter Gewalt gegen Schüler gekommen. Dies wurde nun durch eine Expertenkommission des Landes Tirol bestätigt. Wie haben Sie das Ergebnis der Untersuchung aufgenommen?

Günther Gerhard: Mit Genugtuung. Es war wichtig, dass diese Vorfälle auch von offizieller Seite bestätigt wurden. Man konnte zuletzt den Eindruck gewinnen, dass das alles nicht stimmt. Dass das alles erfunden wäre.

STANDARD: Die "Kronen Zeitung" hat den Wahrheitsgehalt von Werdeniggs Aussagen bezweifelt.

Gerhard: Das geht gar nicht, Boulevard eben. Das ist Dilettantismus. Da kann man nicht mehr von Journalismus reden. Aber es ist nicht nur das.

STANDARD: Was meinen Sie?

Gerhard: Die Expertenkommission des Österreichischen Skiverbandes hat ja alles für mehr oder weniger gut befunden. Das war sehr ärgerlich. Vielleicht sollen wir uns noch dafür entschuldigen, dass wir als Kinder misshandelt wurden.

STANDARD: Der Skiverband zieht sich auf den Standpunkt zurück, dass er für die Skisportschulen nicht verantwortlich ist.

Gerhard: Jetzt schiebt jeder die Verantwortung ab. Niemand will damit etwas zu tun haben. Als ob nichts passiert wäre.

STANDARD: Was ist denn passiert?

Gerhard: Buben wurden über Jahre vom Heimleiter systematisch sexuell belästigt. Der Vorwand war immer Massieren. Das ist ständig passiert.

STANDARD: Warum konnte der Mann so lange ungestört sein Unwesen treiben?

Gerhard: Weil die Schüler Angst hatten. Kinder wurden geschlagen. Das Heim wurde mit brutaler Hierarchie geführt, mit Dominanz und Gewalt. Auch ich wurde traktiert, konnte aber flüchten. Bei mir blieb es ein einmaliges Erlebnis.

STANDARD: Waren die Jugendlichen traumatisiert?

Gerhard: Natürlich, was glauben Sie? Einer meiner Zimmerkollegen ist später an einer Überdosis Heroin gestorben. Das ganze Heim war traumatisiert. Ich wollte nie mehr ins Stubaital.

STANDARD: Und trotzdem sind Sie zurückgekehrt. Warum?

Gerhard: Ich war der erste Athlet, der später als Trainer in Neustift gearbeitet hat. Von 1989 bis 1992. Ich wollte geben, was ich nie bekommen hatte. Für mich war das wie Vergangenheitsbewältigung.

STANDARD: Ist sie gelungen?

Gerhard: Na ja, ich habe es verdrängt. Ich wollte abschließen, damit nichts mehr zu tun haben. Ich weiß, dass es anderen auch so ergangen ist. Ich war nicht der Einzige. Insgeheim habe ich aber vierzig Jahre gehofft, dass jemand darüber spricht. Man muss Nicola dankbar sein.

STANDARD: Warum reden nun auch Sie offen?

Gerhard: Weil alle gewusst hatten, was dieser Mann getan hat. Spätestens mit der Entlassung. Trotzdem konnte er anschließend noch als Lehrer in Neustift tätig sein und in Vorarlberg seine pädagogische Karriere fortsetzen. Das ist ein unglaublicher Skandal, es wurde alles unter den Teppich gekehrt, alles totgeschwiegen. So etwas darf nie wieder passieren. (Philip Bauer, 5.12.2018)