Serbien war nie ihr Ziel. Doch als die Balkanroute im März 2016 geschlossen wurde, blieben etwa 8.000 Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten dort stecken. Im Norden versperrten die ungarischen Grenzzäune den Weg, im Westen intensivierte Kroatien das Grenzregime auf der leicht kontrollierbaren Ebene der Srem. Derzeit befinden sich noch 3.500 bis 4.000 Migranten in Serbien. Die meisten sind registriert und haben eine sogenannte "Asylabsicht" geäußert, aber nur ein kleiner Teil davon hat einen Asylantrag gestellt und befindet sich im Asylverfahren. Seit Serbien im Jahr 2008 ein Asylgesetz einführte, haben rund 100 Personen Asyl erhalten.  

Migranten im Asylzentrum Krnjaca.
Foto: Armina Galijas

Zweierlei Flüchtlinge

Noch bis Mitte 2018 waren die meisten Migranten in Serbien in 18 Regierungszentren untergebracht. Eines davon ist das Asylzentrum Krnjača. AZ (Asylzentrum) Krnjača ist zehn Kilometer von Belgrad entfernt und befindet sich im Besitz der staatlichen Baufirma Ivan Milutinovic (PIM). Das Unternehmen befindet sich seit Jahren in einem Insolvenzverfahren. Ein Teil der Beschäftigten im Asylzentrum, etwa das Küchenpersonal oder die Eingangskontrolle, sind immer noch Angestellte der Firma. Sie werden jetzt vom serbischen Kommissariat für Flüchtlinge und Migration bezahlt, das durch EU-Gelder unterstützt wird. Noch immer hängt das alte Firmenschild am Tor und auf den Uniformen des Sicherheitspersonals ist das PIM-Logo aufgenäht.

Unternehmen Ivan Milutinovic alias AZ Krnajca.
Foto: Armina Galijas

Das Unternehmen ist nach Ivan Milutinović benannt, einem jugoslawischen Partisanengeneral aus Montenegro. Milutinović war ein bedeutender Militärkommandant im Zweiten Weltkrieg, der sein Leben der Idee eines kommunistischen jugoslawischen Staates widmete. Er fiel 1944. Sein Bild, das einzige an der Wand, ziert den Speisesaal, in dem die Migranten verpflegt werden. Das Foto zeigt ihn in Partisanenuniform mit dem fünfzackigen Stern auf der Militärkappe. Es hängt dort seit 1952, dem Jahr, in dem die Firma unter seinem Namen gegründet wurde. In der sozialistischen Zeit baute das Unternehmen Staudämme im Nahen und Mittleren Osten. Heute leben in den Arbeiterbaracken viele Migranten aus jener Region. Aber schon davor dienten die Barracken serbischen Flüchtlingen und Binnenvertriebenen aus den jugoslawischen Kriegen der 1990er-Jahre als Unterkunft. Sie saßen unter dem Bild eines Mannes, der sein Leben für einen Staat gegeben hatte, dessen gewaltsamer Zerfall sie nach Krnjača vertrieb.

Das Bild von Ivan Milutinovic im Speisesaal für Migranten.
Foto: Armina Galijas

Viele dieser Flüchtlinge aus den Jugoslawienkriegen waren 25 Jahre später, als die ersten Migranten aus dem Nahen Osten ankamen, noch immer da. Das Zusammenleben zwischen den alten und den neuen Flüchtlingen verlief weitgehend harmonisch. Die Lage der serbischen Flüchtlinge wurde durch die Neuankömmlinge gewissermaßen aufgewertet und weil nun Platzprobleme entstanden, erhielten sie endlich die lange versprochenen Unterkünfte. Das Wohnungsproblem wurde in vielen Fällen mit dem Regionalen Wohnungsbauprogramm gelöst, einer gemeinsamen Initiative von Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Montenegro und Serbien.

Sesshaft werden

In den ehemaligen Arbeiterbaracken des PIM lebten im Oktober noch 554 Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten. Drei Viertel davon Familien mit Kindern, der Rest sind alleinstehende Männer und unbegleitete Minderjährige. Krnjača gehört mit 73 Prozent Kindern, neun Prozent Frauen und 17 Prozent Männern zu den sogenannten Familienzentren. 82 Prozent der Bewohner Krnjačas stammen aus Afghanistan, ein Prozent aus dem Irak und zwei Prozent aus Pakistan. Derzeit kommt nur ein halber Prozent von ihnen aus Syrien. Viele leben seit über einem Jahr im Zentrum. Ihre Situation hat sich mit der Schließung der Balkan-Route im Jahr 2016 massiv verändert: Die Migranten sind, obwohl weder sie noch der serbische Staat das wollen, sesshaft geworden. Sie werden dennoch als "Migranten im Transit" bezeichnet. Neben den drei Mahlzeiten, die sie am Tag bekommen, werden jetzt im Zentrum verschiedene Aktivitäten angeboten, die von über 20 nationalen und internationalen NGOs gefördert werden. Es kommen jedoch weiterhin neue Migranten und einige "Alteingesessene" schaffen es, illegal die Reise in Richtung Westeuropa fortzusetzen. Die Gesamtzahl der Migranten in Krnjača ist seit einer Weile konstant oder nimmt sogar ab.

Mangelhafte persönliche Sicherheit

Zwar entscheiden sich viele Flüchtlinge für die Balkan-Route durch Serbien, weil sie als relativ sichere Passage gilt: Es besteht keine Gefahr für das Leben, Polizeigewalt ist selten und es gibt keine illegalen Push-backs. Allerdings fehlen bei der Unterbringung die notwendigen Sicherheitsdispositive, was vor allem die gefährdeteren Migranten (Frauen, Kinder) einem erhöhten Risiko aussetzt. Der serbische Staat gewährte zwar humanitäre Hilfe, das heißt Unterstützung in Form von Lebensmitteln und Kleidung. Aber die Sicherheit im Zentrum ist ungenügend. Im AZ Krnjača machen meist nur zwei Sicherheitsleute gleichzeitig ihren Dienst. Die Polizei ist nicht präsent. Das erweist sich als unzureichend. Laut Mitarbeitern verschiedener NGOs ist es mehrfach zu Fällen von sexuellem Missbrauch gekommen. Es fehlen separate Einrichtungen für die Unterbringung unbegleiteter Kinder und ein umfassendes Schutzsystem. Die Polizei kann nur reagieren, wenn Angriffe gemeldet werden. Dies unterbleibt oft aus Angst vor Vergeltung. Weil viele unbegleitete Minderjährige ohne finanzielle Mittel sind, besteht die Gefahr, dass sie Opfer von Zwangsarbeit oder anderen Formen der Ausbeutung werden. Unbegleitete Kinder nutzen häufig die Dienste von Schmugglern, was sie zusätzlich dem Risiko von Misshandlungen und Menschenhandel aussetzt.

Migranten spielen Kricket im AZ Krnjaca.
Foto: Armina Galijas

Auch die wirtschaftlichen Perspektiven sind ungünstig für Migranten, weshalb sie kaum langfristige Pläne in Serbien haben. Vor allem fehlt eine bereits integrierten Migrantengemeinschaft, wie sie in westeuropäischen Staaten existiert und dort oft als Basis oder Anlaufstelle für den Neuanfang dient. Selbst wenn ihr rechtlicher Status in Ländern wie Deutschland oder Österreich nicht geklärt ist, finden sie dort zumindest einen Schlafplatz und oft auch eine Beschäftigung auf dem Graumarkt. Auch wenn die Migranten in Serbien dauerhafte Aufenthaltsbewilligungen erhielten – ohne die Unterstützung effizienter staatlicher Institutionen und ohne die Hilfe einer etablierten Migrantengemeinschaft sind die Aussichten düster. Beides fehlt in Serbien.

In der Falle

Zweieinhalb Jahre nach der Schließung der Grenzen ist die Zahl der Migranten, die auf der Balkan-Route Richtung EU unterwegs sind, massiv geschrumpft. Die Reise ist schwieriger, teurer und gefährlicher geworden. Die meisten Migranten, die sich zurzeit auf der Balkanroute befinden, fühlen sich in einer Falle und versuchen aus ihr herauszukommen. Tatsächlich sind sie weder in einem Transit, noch können oder wollen sie langfristig auf dem Balkan bleiben. Wegen der geschlossenen Grenzen nach Ungarn, Kroatien und Rumänien weichen sie auf andere Routen aus: Zum Beispiel auf den südlichen Ast der Route via Albanien, Montenegro nach Bosnien-Herzegowina, von wo der Übertritt nach Kroatien versucht wird. Damit sind neuartige Herausforderungen für den schwachen bosnischen Staat verbunden – und zusätzliche Risiken für die Migranten.

Die Gesamtzahl der registrierten Ankünfte in Bosnien und Herzegowina zwischen dem 1. Jänner und dem 31. Juli betrug 10.145 (verglichen mit 218 Personen während des gesamten Jahres 2017). Noch weniger als Serbien ist das Land vorbereitet auf die logistische und humanitäre Aufgabe, zumal die internationale Unterstützung geringer ist. Die Lage im Unsko-Sanski Kanton im Nordwesten Bosniens hat sich mit dem Wintereinbruch dramatisch verschlechtert. Tausende Migranten sind dort behelfsmäßig in Zelten untergebracht. Die lokalen Behörden warnen vor Konflikten unter den Migranten und vor Spannungen mit der lokalen Bevölkerung. Sie kritisieren, dass sie von der Föderation und dem Gesamtstaat im Stich gelassen werden. Die Migranten versuchen, über Kroatien und Slowenien weiter nach Westen zu kommen, aber das wird immer schwieriger. Die Berichte über Push-backs aus Kroatien und prügelnde Polizisten häufen sich. Angesichts des katastrophalen Krisenmanagements in Bosnien-Herzegowina fragen sich viele Beobachter, ob damit eine Abhalte-Politik im Auftrag der EU umgesetzt wird. (Armina Galijas, 12.12.2018)

Veranstaltungshinweis: Am 12. Dezember um 18 Uhr findet im Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der ÖAW in Wien der Vortrag "Gestoppt, gestrandet und gefangen: Ein unerwartetes „Zuhause“ für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten" statt.

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