Am 10. Dezember 1948 tagte die Uno-Generalversammlung im Pariser Palais de Chaillot und unterzeichnete dort die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

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1945 liegt Europa in Trümmern. Hitlers Holocaust, Stalins Massenmorde, zahllose Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, Millionen Tote, Verwundete und Vertriebene in den Köpfen und Seelen der Menschen. Tyrannei und Barbarei, Missachtung der Menschenwürde, Verfall ethischer und moralischer Prinzipien wohin das Auge blickte.

Zwei Generationen

Am 10. Dezember 1948 wird im Palais de Chaillot in Paris von der Generalversammlung der im Oktober 1945 ins Leben gerufenen Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ohne Gegenstimmen verkündet, gegründet auf den wiedererweckten Ideen der Aufklärung, den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und den im 19. Jahrhundert erstrittenen zwei "Generationen" individueller Rechte.

In 30 Artikeln werden nämlich nicht nur die "klassischen" politischen und zivilen Rechte des Liberalismus, sondern auch die auf dem Sozialismus beruhenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte garantiert, die für alle Menschen gelten sollen, da diese frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Jeder Mensch hat zudem Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in der Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten verwirklicht werden können. Um dieses Ziel zu erreichen, haben alle Menschen jedoch auch Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung ihrer Persönlichkeit möglich ist.

Die Erklärung, wenngleich rechtlich nicht bindend, weil "nur" ein politisches Dokument, wird dennoch Mutter und Maßstab aller folgenden internationalen und regionalen Menschenrechtskonventionen und -systeme. Welche Bedeutung hat sie in der Folge gewonnen, welche Ausstrahlungswirkung hat sie heute? Wenngleich diese Frage in Wissenschaft und Rechtspraxis nicht abschließend geklärt ist, so ist weitgehend anerkannt, dass bestimmte Rechte der Erklärung zu Völkergewohnheitsrecht geworden sind oder allgemeine Rechtsgrundsätze darstellen. Dies lässt sich damit begründen, dass sie insbesondere den rechtsverbindlichen UN-Menschenrechtspakten 1966 und u. a. der Europäischen Menschenrechtskonvention 1950 Pate gestanden ist.

Folgende Rechte zählen dazu: das Recht auf Leben, die Verbote von Folter und Sklaverei, die Anerkennung jedes Menschen als Rechtsperson, die Gleichheit vor dem Gesetz und das Verbot von Diskriminierung, das Verbot willkürlicher Inhaftierung und das Recht auf ein faires Verfahren. Ich meine, dass auch die "Streitbarkeitsklausel" des Artikels 30 hinzuzurechnen ist, wonach keine Bestimmung dahin ausgelegt werden darf, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, welche die Beseitigung der in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten zum Ziel hat.

Unumstritten ist, dass die Erklärung zur Interpretation internationalen, regionalen und nationalen Rechts herangezogen wird, wenn es um grund- und menschenrechtliche Fragestellungen geht. So gilt sie als verbindliche Quelle der Auslegung der menschenrechtlichen Bestimmungen der UN-Charta 1945 und wird von Höchstgerichten weltweit gelegentlich zur Auslegung nationalen Rechts herangezogen, um die Autorität und Legitimität einer Entscheidung mit zu begründen.

Beispielsweise hat der deutsche Bundesgerichtshof, bestätigt durch das Bundesverfassungsgericht 1996, in einem zu Mauerschützen und Todesschüssen an der innerdeutschen Grenze ergangenen Urteil festgehalten, dass der Erklärung jedenfalls insofern ein hohes Maß an rechtlicher Bedeutung zukommt, "als sie den Willen der Völkergemeinschaft bekunde, Menschenrechte zu verwirklichen, und den Inhalt dieser Menschenrechte auch erkennbar mache. Angesichts der Exaktheit, mit der die Erklärung das fundamentale Recht auf Leben und das Recht auf freie Ausreise definiert habe, könne sie als eine Konkretisierung dessen aufgefasst werden, was als die allen Völkern gemeinsame, auf Wert und Würde des Menschen bezogene Rechtsüberzeugung verstanden werde."

Eine Vielzahl von Verfassungen weltweit (annähernd 100) wurde seit 1948 von der Erklärung inspiriert. Soweit sich die Erklärung in nationalen Verfassungen widerspiegelt, kann sie mit Gewissheit auch als eine Quelle der Inspiration nationaler Gesetzgebung gesehen werden. In Österreich ist dies nicht der Fall, jedoch ist zu bedenken, dass stattdessen die von der Erklärung stark beeinflusste Europäische Menschenrechtskonvention 1964 in Verfassungsrang gehoben wurde und deren Rechte seitdem als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte gelten, die vor dem Verfassungsgerichtshof unmittelbar durchgesetzt werden können.

Eine besondere Bedeutung für die Gegenwart erfährt die Erklärung durch ihre Präambel: Sie stellt fest, dass die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet und für die anzustrebende Freiheit von Furcht und Not die umfassende Gewährleistung aller Rechte nötig ist. Um dieses Ziel zu erreichen, sind "die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen".

Gegen die Tyrannei

Die besondere Bedeutung der Erklärung liegt demnach darin, dass sie den unverzichtbaren Zusammenhang aller Menschenrechte in ihrer Wechselwirkung betont, die mit den Prinzipien und Mitteln des Rechtsstaats – Gewaltentrennung und unabhängige Justiz, die auf der Grundlage allgemeingültiger Gesetze zu entscheiden hat – zu schützen sind.

So betrachtet stellt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte einen Leuchtturm dar, der davor bewahren soll, dass eine Gesellschaft, ein Staat an den umgebenden Klippen und Untiefen zerschellt. Angesichts bedrohlicher politischer Entwicklungen in so manchen europäischen Staaten, in denen Bevölkerungen gespalten, existenzielle Menschenrechte infrage gestellt, die Unabhängigkeit der Justiz unterminiert, die Meinungs- und Medienfreiheit ausgehöhlt und Menschen zum Spielball wirtschaftlicher Interessen werden, sollten wir ihre warnenden Signale nicht missachten. (Hannes Tretter, 10.12.2018)