Der neue Erlass des Bildungsministeriums soll eine Orientierung für die Umsetzung des Unterrichtsprinzips "Gleichstellung" sein.

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Schule muss diverser werden, sagt Susanne Tschida.

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Seit November ist er nun da: Nachdem die Streichung des Erlasses zum Unterrichtsprinzip "Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern" im März Kritik laut werden ließ, wurde eine Neutextierung angekündigt. Der Erlass aus dem Jahr 1995 sei nicht mehr zeitgemäß, hieß es aus dem Bildungsministerium, weshalb man mit Schulbeginn einen neuen vorlegen wolle. Vieles wurde in der Neufassung aus dem alten Erlass übernommen, insgesamt fällt er allerdings umfangreicher aus als die alte Version. Auch der Name hat sich in "Reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung" geändert.

Der Erlass soll als "Orientierungsrahmen für die Realisierung des Unterrichtsprinzips 'Reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung'" dienen, heißt es zu Beginn über den Nutzen der Erlasses. Schon in der Fassung von 1995 beschäftigte man sich unter anderem mit der "Wahrnehmung von Ursachen und Formen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung", der "Reflexion eigener Interaktionen" oder der "Verfestigung von Rollenklischees".

All das ist auch in der Neutextierung wieder Thema, wenn auch ausführlicher als vor über zwanzig Jahren. Trotzdem ist der neue Erlass keine Neuauflage gänzlich ohne neue Inhalte. Neuerungen machen sie vor allem in vier Themenfeldern bemerkbar – zwei davon durch ihr Fehlen, die anderen durch ihre Präsenz. Insbesondere ein Thema wird immer wieder hervorgehoben: die "kulturell" und "religiös" geprägten Geschlechterbilder. DER STANDARD hat sich gemeinsam mit der Bildungswissenschafterin Susanne Tschida den neuen Erlass genauer angesehen.

  • Das ist neu

"Kulturbedingte" Geschlechterbilder: Besonders präsent ist im neuen Erlass an vielen Stellen ein Thema, das in der Fassung von 1995 zur Gänze fehlt: der Fokus auf "kulturell" beziehungsweise "religiös" bedingte Geschlechterungleichheit. Während die Gültigkeit im alten Erlass für alle offenbar vorausgesetzt wurde, wird in der neuen Fassung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Unterrichtsprinzip "Reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung" Wissen an "alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrem sozialen, kulturellen und religiösen Hintergrund" vermitteln soll.

An anderer Stelle heißt es, dass "Religionskritik sowohl in der Vergangenheit als auch aktuell nicht mit Rassismus zu verwechseln ist" – was ein Hinweis darauf ist, dass die geschlechterbezogenen Ungleichbehandlungen in Minderheitencommunitys besonders im Fokus stehen. Als Beispiele werden im Erlass etwa "ehrenhafte Verhaltensanforderungen" an Mädchen, an anderer Stelle die "Familienehre" oder die "Überwachung der weiblichen Jungfräulichkeit" genannt. Dem "Umgang mit dem Thema Kopftuch" wurde sogar ein eigener Abschnitt gewidmet. "Sexismus in der Werbung" wird hingegen als konkretes Beispiel für Ungleichbehandlung in der Mehrheitsgesellschaft genannt.

Susanne Tschida warnt davor, geschlechterspezifische Ungleichbehandlung an eine bestimmte Religion oder Herkunftskultur zu knüpfen. "Gelebte oder eben nicht gelebte Gleichstellung ist vorrangig ein Bildungsproblem. Es ist problematisch, Fragen von Kultur und Religion gewissermaßen zu naturalisieren", sagt die Bildungswissenschafterin. Andererseits wäre es naiv, die im Erlass angesprochenen Praxen – vom Gebot der Jungfräulichkeit bis hin zu Zwangsheirat – in der pädagogischen Praxis zu negieren. "Die Frage ist aber, warum nur diese Praxen in den Erlass aufgenommen wurden und viele andere nicht", sagt Tschida. Ihre These ist, dass es letztendlich um eine "Kanalisierung der Ängste" gehe, die aufgrund einer erhöhten Pluralisierung der Gesellschaft entstehen.

Wird eine bestimmte Community besonders hervorgehoben, entstehe der Eindruck, es werde etwas gegen "die anderen" unternommen und es werde überhaupt etwas "getan" und "umgesetzt". Damit verbunden sei aber auch die Illusion eines Österreich, in dem die Mehrheitsgesellschaft frei von Geschlechterungleichheiten ist. "Wir leben in Österreich nach wie vor in einer patriarchalen Gesellschaft", sagt Tschida. Das zeige sich beim Gender Pay Gap ebenso wie bei der Frage der Kinderbetreuung oder Familiengründung, die bis heute "Frauenfragen" seien, "zu denen es keine angemessenen strukturellen politischen Konzepte gibt", kritisiert Tschida.

Gender: Hinzugekommen ist auch die Präzisierung von Geschlecht, das im neuen Erlass als "soziales Geschlecht" adressiert wird – "im Sinne der Definition der WHO". Konkret wird auf dieses hingewiesen, indem etwa die "gesellschaftlichen Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit" thematisiert werden. Außerdem wird im Sinne des Unterrichtsprinzips differenziertes Denken jenseits "verengter" und "bipolarer" (sic!) Geschlechterbilder für den Unterricht nahegelegt. Mit Letzterem dürfte das "binäre" Geschlechterbild gemeint sein, in dem "Mann" und "Frau" als einzige Geschlechter akzeptiert werden und Inter- oder Transpersonen völlig ausgeblendet werden. In der konkreten Ausarbeitung des Erlasses gilt dieses differenzierte Geschlechterbild laut Tschida allerdings nicht: "Der Erlass bleibt in der Dualität männlich/weiblich verhaftet".

  • Das fehlt

Feminismus: Obwohl im neuen Erlass gleich mehrmals von "patriarchalen Rollenzuweisungen" die Rede ist – der Begriff "Patriarchat" blieb in der Fassung von 1995 noch außen vor –, fehlt jene Bewegung völlig, die diese "patriarchalen Rollenzuweisungen" in den letzten Jahrzehnten in den Fokus gerückt hat: der Feminismus. "Der Feminismus hat die Grundlage für die Reflexion patriarchaler Strukturen geschaffen", sagt Tschida. Dieser werde aber gerne in die Geschichte verlagert. Die Formulierung von den "Kenntnissen über die Geschichte der Frauenbewegung" erwecke den Eindruck, dass diese Frauenbewegung ein in sich abgeschlossenes Ereignis sei. "Ein bisschen wie 'Es gab einmal Dinosaurier'", sagt Tschida. Viele SchülerInnen wüssten nicht einmal, worin die Folgen dieser Bewegung lägen und was dank der Frauenbewegung heute anders sei.

Geschlechtergerechte Sprache: Neben dem stärkeren Fokus auf Geschlecht als sozial konstruierte Charakteristika von Frauen und Männern, das nun als "soziales Geschlecht" Eingang in den Erlass gefunden hat, gewann seit 1995 auch die sprachliche Sichtbarkeit von Geschlecht an Relevanz. Dennoch fehlt diese in der Neutextierung des Erlasses gänzlich. Tschida hält das für einen Fehler: "Sprache schafft Wirklichkeit. Eine Sprache, die bestimmte Teile der Gesellschaft nicht abbildet, ist wirkmächtig."

Darüber hinaus gibt Tschida zu bedenken, dass es noch viel zu wenig Bewusstsein darüber gebe, dass Schule selbst ein "machtvoller Raum" sei, der Ungleichheit hervorbringe – nicht nur zwischen den Geschlechtern. Demnach bräuchte es neben vielen anderen Dingen mehr Diversität bei den Lehrenden selbst. Schule als Institution müsse diverser, pluraler und auch multilingualer werden. (Beate Hausbichler, 11.12.2018)