Der vereinbarte Vertrag sei "der bestmögliche Deal", der einzige, daran dürfe nicht mehr gerüttelt werden, sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Er könne sich aber vorstellen, dass man die politische Erklärung ergänze. "Klarstellungen" wären möglich.

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Ratlosigkeit, abwarten, taktieren, auf eigenen Positionen beharren. Und zur Causa prima, die im Moment alle anderen EU-Themen überlagert, nur ja nichts Unvorsichtiges erklären. So lässt sich die Stimmung in der EU-Kommission wie auch im Europäischen Parlament in Straßburg am Dienstag nach dem in letzter Minute erfolgten Abblasen der Abstimmung über den Brexit-Deal im britischen Unterhaus beschreiben.

"Was soll ich sagen, vielleicht ist am Abend wieder alles anders", räsonierte etwa der SPÖ-Abgeordnete Josef Weidenholzer, als er vor der Abstimmung im Plenum gefragt wurde, wie sich ein Scheitern des britischen Austrittsvertrages oder gar eine Verzögerung des Brexits über den 29. März 2019 hinaus auf die Europa-Wahlen zwei Monate später auswirken würde.

Viele offene Fragen

Ob die Briten dann wie bisher einfach ihre 73 EU-Abgeordneten wählen könnten, obwohl die Neuverteilung der Sitze in Straßburg eigentlich schon beschlossen ist, oder ob Großbritannien dann zunächst nur als "Beobachter" am EU-Parlament teilnimmt, das ist nur eine der unzähligen offenen Fragen, die mit dem Chaos in London für den Rest der Union zu beantworten sein werden.

Am Donnerstag werden sich die Staats- und Regierungschefs der EU-27 zunächst allein und dann mit Premierministerin Theresa May darüber unterhalten. Die Hoffnung aller, dass der erst vor zwei Wochen bei einem Sondertreffen in Brüssel vereinbarte Deal (ein 585 Seiten starker Austrittsvertrag plus eine politische Erklärung, wie man nach einer "Übergangsfrist" im Jahr 2020 gemeinsam weitermachen will) irgendwie vom britischen Parlament ratifiziert werden könnte, hat sich nicht erfüllt.

Die Tür ist offen

Der Ständige Ratspräsident Donald Tusk gab nur wenige Stunden nach Mays Erklärung im Unterhaus die Linie vor: Er berief einen zusätzlichen Sondergipfel der EU-27 – also ohne May – ein. Er betonte, dass es keine Nachverhandlungen geben werde, wie am 25. November einstimmig beschlossen. Aber: Tusk machte die Tür zu einer neuen Lösung bereits einen Spalt weit auf, indem er sagte, man sei bereit, mit der Premierministerin "zu reden". Ganz auf dieser Linie gab Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Plenum in Straßburg eine Erklärung ab: Der mit May vereinbarte Vertrag sei "der bestmögliche Deal", der einzige, daran dürfe nicht mehr gerüttelt werden. Er könne sich aber vorstellen, dass man die politische Erklärung ergänze. "Klarstellungen" wären möglich.

Während sich May auf eine Tour durch Regierungszentralen in Europa begab, um nach Änderungen im Vertrag zu verlangen, sagte auch Bundeskanzler Sebastian Kurz in seiner Eigenschaft als EU-Ratsvorsitzender der "Financial Times": "Es wird definitiv keine Nachverhandlungen geben", der Deal sei ausgewogen. Und: Es liege "im Interesse von uns allen, ein No-Deal-Szenario zu vermeiden", erklärte Kurz.

Verschiebung als Option

Diese Formel weist darauf hin, dass es auch eine dritte Lösung geben könnte, die im EU-Parlament wegen der Kollision mit den EU-Wahlen im Mai aber stark abgelehnt wird: die Verschiebung des Brexits um ein Jahr. Offiziell wird diese Variante von niemandem bestätigt. Sie würde bedeuten, dass das Vereinigte Königreich so lange vollberechtigtes und verpflichtetes EU-Mitglied bleibt, bis irgendeine neue Lösung gefunden ist. Die Unsicherheit für Wirtschaft und Bürger wäre dann maximal. Auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel stellte in den Vordergrund, dass es nur den vereinbarten Deal geben werde.

Dennoch heißt es in Ratskreisen, eine Verschiebung des Brexits werde dann näherrücken, sollte Mays Deal im Unterhaus bei der für vor Weihnachten geplanten Abstimmung scheitern. Einen Chaosaustritt mit riesigem wirtschaftlichem Schaden für alle Beteiligten werde niemand akzeptieren.

Bis dahin bleibt aber noch viel Zeit zum Verhandeln, fast vier Monate, das ist viel für EU-Verhältnisse, wo wichtige Verträge meist in letzter Minute, mit allerletzten Korrekturen erledigt werden. Wahrscheinlich ist, dass der EU-Gipfel am Freitag den Auftrag gibt, über zusätzliche Klauseln zu verhandeln, insbesondere zur Frage der offenen Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland im Süden. (Thomas Mayer aus Straßburg, 11.12.2018)