Sorgen um die Zukunft, Publikumsschwund und fundamentale Identitätsfragen: Das Wiener Volkstheater ist der Problemfall unter den Bühnen der Stadt.

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Die Neuausschreibung des Wiener Volkstheaters fällt in eine Zeit, in der intensiv über das "Stadttheater der Zukunft" nachgedacht wird – ästhetisch wie strukturell. Rückläufige Kulturbudgets, Zuschauerschwund, aufkeimende Repräsentationsfragen und eine sich verändernde Bevölkerungsstruktur gehören zu den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, mit denen sich Theaterinstitutionen konfrontiert sehen.

Nach drei schwierigen Spielzeiten hat Intendantin Anna Badora im Frühsommer bekanntgegeben, ihren bis 2020 laufenden Vertrag nicht zu verlängern. Seither steht das Haus im Zentrum der Debatte. Wie soll der Riesentanker Volkstheater ab 2020 aussehen? Soll es ein Repertoire- und Ensembletheater bleiben? Oder soll der prächtige Bau eine Mischform enthalten, in der freie darstellende Kunst involviert ist? Oder könnte das Haus eine Abspielstätte für Tourproduktionen werden?

Vorläufig sind alle Fronten geöffnet. Und Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ), die die Leitung des Hauses im Jänner 2019 neu ausschreiben wird, will die Ideen durch keinerlei Vorabpräferenz eingeschränkt wissen (siehe Interview). Allmorgendlich trifft die Politikerin Interessierte und Aficionados zu Kaffeehausgesprächen, um die Visionen zu erforschen.

Nun hat sie in der Roten Bar des Volkstheaters eine Expertenrunde am Podium zusammengetrommelt, die ihre jeweiligen Erfahrungen und Standpunkte vor Publikum diskutiert. Fazit gibt es keines. Noch nicht. Am 28. Jänner 2019 folgt Teil zwei der Podiumsrunde – in neuer Besetzung.

Krass unterfinanziert

Bemerkenswert ist vorerst, wie wenig sich Theaterweisheiten von einem Ort an einen anderen übertragen lassen. Stadttheater ist nicht gleich Stadttheater, sagt Barbara Mundl, die designierte Leiterin der Münchner Kammerspiele. Es komme eben immer darauf an, wie viel ein Theater in einer Stadt "abdecken" soll. Ist es das erste Haus am Platz, so ergeben sich andere Verpflichtungen und Möglichkeiten als etwa für das Wiener Volkstheater, das sich in einer traditionell theaterreichen Stadt wie Wien neben Burg- und Akademietheater sowie der Josefstadt als drittes beziehungsweise viertes Stadttheater behaupten muss.

Die zentrale Schwierigkeit des Volkstheaters war bisher, dass es für seine immense Größe mit jährlich 12,4 Millionen Euro vergleichsweise krass unterfinanziert ist. Darüber klagten bereits Badoras Vorgänger Emmy Werner und Michael Schottenberg. Die künstlich herabgeschraubte Sitzplatzzahl liegt im Haupthaus immer noch bei 870 Plätzen, was in etwa der Berliner Volksbühne (22 Millionen Euro) entspricht. Ist es da nicht von vornherein ausgeschlossen, mit einem Tanker wie der Burg (48 Millionen Euro, 1208 plus 536 Plätze) konkurrieren zu können? Oder liegt der Publikumsschwund eher an der zu ähnlichen Ausrichtung der Häuser? Wollte das Volkstheater zu sehr dem Burgtheater ähneln, nur mit geringeren Mitteln? Tatsächlich hat Badora der Burg nicht nur die Schauspielerin Stefanie Reinsperger abspenstig gemacht (wenn auch nur für kurze Zeit), sondern auch Regisseure wie Dusan David Parízek, Nikolaus Habjan oder Stephan Kimmig. Andererseits hat das Volkstheater durchaus versucht, anderen ästhetischen Konzepten Raum zu geben, etwa mit Yael Ronens oder Jacqueline Kornmüllers Stückerarbeitungen.

Und hier kommt ein heikler Punkt ins Spiel: Inwiefern soll ein Stadttheater freie darstellende Kunst integrieren? Diese Frage wird auch bei der Volkstheaterneuausrichtung heiß diskutiert, an der die freie Szene regen Anteil nimmt. Volkstheater und freie Szene, das passt aufruhrmäßig gut zusammen, hieß es am Podium. Gemeint sind damit der Wille und das Potenzial zur gesellschaftspolitischen Veränderung. Und tatsächlich wird diese Durchlässigkeit zwischen festen Institutionen und freier Kunst schon lange gefordert und auch ansatzweise praktiziert. In Deutschland fördert die Kulturstiftung des Bundes mit dem Doppelpass-Fonds Kooperationen von freien Gruppen und festen Tanz- und Theaterhäusern über jeweils zwei Jahre. Das Schauspiel Leipzig hat mit der "Residenz" eine fixe Spielstätte für freie Gruppen, wo zum Beispiel auch Doris Uhlich ihre Produktion Every Body Electric adaptierte oder wo namhafte Gruppen wie Forced Entertainment oder Rimini Protokoll arbeiten.

Theater ohne Haus

Noch weiter geht Johan Simons, der sich als Intendant des Schauspielhauses Bochum nun generell offenere Produktionsbedingungen schafft, mit einem internationalen Ensemble, einem genreübergreifenden Programm, mit einem weitgehenden En-suite-Spielbetrieb. Ähnlich wie es das Wiener Schauspielhaus unter Tomas Schweigen derzeit praktiziert. Das aufgrund einer exzellenten PR-Maschine im Ruf eines Vorzeigemodells für ein "Stadttheater der Zukunft" stehende NT Gent von Milo Rau hat wiederum eine ganz eigene, der flämischen Theatertradition entsprechende Ausrichtung mit einem projektabhängig beschäftigten Ensemble. Gents Chefdramaturg Stefan Bläske warnte aber in der Roten Bar, erfolgreiche Modelle einfach zu verpflanzen.

Vorläufig muss Wien sich noch darüber klar werden, welche Art Volkstheater (sofern der Name beibehalten werden soll) die Stadt überhaupt haben möchte. Die Bandbreite ist groß. Der Standort und seine ureigenen Anforderungen werden die entscheidenden Kriterien sein. Ein einzigartiges, für sich passendes Modell hat übrigens das Schottische Nationaltheater gewählt. Dieses ist ein "Theater ohne Wände", es hat kein Haus, kein Gebäude mehr, in das Menschen herbeiströmen, sondern es vaziert dezentral durchs Land von einer Spielstätte zur nächsten. Jetzt aber keine Sorge – für Wien steht die Aufgabe der Immobilie gar nicht zur Debatte. (Margarete Affenzeller, 13.12.2018)