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Um Punkt 22.00 Uhr MEZ verkündete das konservative 1922-Komitee das Ergebnis des parteiinternen Misstrauensvotums.

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Theresa May darf in Downing Street Nummer 10, dem Amtssitz des britischen Premiers, bleiben.

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Seit Wochen schon stand das Parlament von Westminster im Mittelpunkt der politischen Debatte Großbritanniens und weit darüber hinaus. An diesem Mittwoch aber ist der neugotische Palast an der Themse auf den Konferenzraum 14 zusammengeschrumpft. Dort entschied sich am Abend in einem blitzartigen Wahlvorgang das Schicksal der Premierministerin: Theresa May gewann die Misstrauensabstimmung in ihrer konservativen Fraktion mit 200 zu 117 Stimmen. Allerdings erklärte sich die 62-Jährige zur Regierungschefin auf Abruf: Sie werde ihre Partei nicht in die nächste Unterhauswahl führen.

Am späten Abend wurde das Ergebnis des parteiinternen Misstrauensvotum verkündet.
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Es ist einer jener Tage, die in die Geschichte des an historischen Ereignissen wahrlich nicht armen Parlaments eingehen dürften. Eigentlich war dafür der Vortag vorgesehen: Nach fünftägiger Debatte hätten die 640 wahlberechtigten Abgeordneten des Unterhauses am Dienstag ihr Urteil fällen sollen über das Paket aus EU-Austrittsvertrag und politischer Erklärung, das die Regierungschefin Ende November mit den 27 EU-Partnern ausgehandelt hatte.

Doch am Montag zog May die Notbremse und verschob die Abstimmung. Zu groß war die Rebellion in den eigenen Reihen, vor allem von jenen Brexit-Ultras, die am liebsten ohne jede Vereinbarung den Klub verlassen wollen. Anstatt sich vom Parlament die weithin vorhergesagte blutige Nase zu holen, begab sich die 62-Jährige am Dienstag auf Reisen in Sachen Brexit.

Tory-Hinterbänkler auf der Lauer

Spätabends erhielt die Premierministerin einen Anruf von Graham Brady. Der 51-Jährige amtiert als Leiter des 1922-Ausschusses, einer Interessenvertretung der Tory-Hinterbänkler. Seine wichtigste Funktion besteht darin, notfalls eine Abstimmung über das Schicksal der Chefin herbeizuführen. Dem Parteistatut zufolge genügen dafür schriftliche Äußerungen von 15 Prozent der Unterhaus-Fraktion, derzeit also 48 Abgeordneten.

Das Quorum sei erreicht, teilte Brady seiner Parteichefin mit. Die habe "nüchtern reagiert" und auf ein schnelles Verfahren gedrängt, berichtete Brady später der BBC. Per Whatsapp gab er am Mittwochmorgen allen Fraktionsmitgliedern Bescheid. Das Vertrauensvotum sollte noch am gleichen Tag über die Bühne gehen.

Auf dem Papier bedurfte die Parteichefin lediglich der einfachen Mehrheit, 159 der 317 stimmberechtigten Tory-Abgeordneten. Dass aber mehr als ein Drittel der Fraktion May die Gefolgschaft versagte, stellt eine schwere Bürde dar. Die ehrgeizigen Rivalen, angeführt von Ex-Außenminister Boris Johnson und den beiden Ex-Brexit-Ressortchefs David Davis und Dominic Raab, scharren bereits mit den Hufen.

Kampf "mit allem was ich habe"

May kämpfte "mit allem, was ich habe", um ihr Partei- und Staatsamt. So kündigte sie es in einer knapp vierminütigen Erklärung an, für die sie am Morgen dieses grauen, trockenen Dezembertages vor die Tür ihres Amtssitzes in der Downing Street trat. So sagte sie es später zur Mittagszeit in der traditionellen Fragestunde an die Premierministerin.

Unterdessen fochten in den Medienstudios die Getreuen für ihre Chefin. Michael Gove, einer der prominentesten Brexit-Vorkämpfer, gehörte dazu. Er werde May unterstützen, beteuerte der Umweltminister: "Es wäre falsch, zu diesem Zeitpunkt einen neuen Premierminister zu installieren." Die Formulierung "zu diesem Zeitpunkt" (at this point) war mit der Downing Street abgesprochen.

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Goves Äußerung sollte jene zögernden Fraktionskolleginnen überzeugen, die wie Nadine Dorries den Alptraum hegten, May werde die Partei auch in den nächsten Wahlkampf führen. Dass die Parteivorsitzende in der Fraktionssitzung die Zusicherung auch persönlich geben musste, hat ihre Position gewiss nicht gestärkt.

Atempause für May

Immerhin verschafft ihr die Abwendung des Adventsputsches eine Atempause gegenüber den Brexit-Ultras, denen die Kritik vieler gemäßigter Fraktionskollegen in den Ohren klang. "Nicht hilfreich, irrelevant, unverantwortlich" nannte Kenneth Clarke, 77, den Wahlvorgang und erntete damit große Zustimmung in seiner Fraktion. Dankbar nahm May den Ball auf. Ein Nachfolgekampf werde den parlamentarischen Zeitplan umstoßen, der spätestens am 21. Jänner die diesmal verschobene Abstimmung über den Austrittsvertrag vorsieht. Ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin müssten "auf jeden Fall Artikel 50 aussetzen oder absagen" – der Brexit würde also verschoben. Wollt Ihr das wirklich, lautete die unausgesprochene Frage an die Brexiteers.

Nachfolgekandidaten in Wartestellung

Die Fakten würden sich unter einem neuen Regierungschef nicht ändern, weder die Zusammensetzung des Unterhauses noch die Tatsache der inneririschen Grenze, hatte David Gauke seinen Fraktionskollegen eingehämmert. Wie der Justizminister gelobten auch die Ressortschefs des Äußeren (Jeremy Hunt) und Inneren (Sajid Javid) der Chefin Loyalität – beide gelten als Anwärter auf Mays Nachfolge, weshalb sie sich in letzter Zeit beim überwiegend EU-feindlichen Parteivolk angebiedert haben.

Kenner der Tory-Partei hatten vorab zur Vorsicht gemahnt: Öffentliche Treueerklärungen seien nicht gleichzusetzen mit dem geheim gemachten Kreuz auf dem Wahlzettel. Mit diesem Misstrauen gingen die konservativen Abgeordneten an diesem historischen Mittwochabend in die Wahlkabine.

Nun müssen sie sich neuen parlamentarischen Auseinandersetzungen stellen: Womöglich will die Labour-Opposition unter Jeremy Corbyn noch vor den parlamentarischen Weihnachtsferien der Regierung die Vertrauensfrage stellen. (Sebastian Borger aus London, 12.12.2018)