Virtuelle Bildung ist an die Stelle von dem getreten, was Adorno Halbbildung nannte.

Cartoon: Michael Murschetz

Wie die anderen Künste auch hat die Literatur seit Jahrhunderten im Unterricht einen wichtigen Stellenwert eingenommen", hieß es in der Einladung zu einer Enquete, die die IG Autorinnen Autoren und die Österreichische Gesellschaft für Germanistik dieser Tage organisierten. Die Pointe dieser Aussage besteht in der Verwendung des Perfekts.

Denn die Vertreibung der Literatur aus den Klassenzimmern und damit aus den Köpfen der Kinder hat längst stattgefunden. Dass Prüfungsaufgaben zur Literatur in der Zentralmatura eine Randerscheinung darstellen, macht diesen Tatbestand lediglich manifest. Als sich ein ungarischer Gastprofessor an unserem Institut vor einiger Zeit erstaunt darüber zeigte, dass die Studierenden in seinem Seminar keine Ahnung von Goethes "Faust" hatten, wurde dies fast schon als kulturelle Ahnungslosigkeit belächelt.

Trügerisches Selbstbild

Die Vertreibung der vermeintlich unnützen Literatur aus den Curricula steht in einem auffälligen Gegensatz zum heimischen Selbstbild einer Kulturnation, das nach innen wie nach außen ausgiebig gepflegt wird. Gerade im Bereich der Literatur hat es in den vergangenen Jahrzehnten maßgebliche Anstrengungen gegeben, der Literatur eine entsprechende Repräsentation zu geben. Literaturmuseum, ansehnliche Literaturarchive an fast allen heimischen Universitäten und subventionierte Literaturhäuser zeugen von dem Bestreben, Literatur in Österreich sicht- und verfügbar zu machen.

Die Schule hat die einstige 1968er-Parole vom Tod der Literatur auf höchst absurde Weise in die Tat umgesetzt. Dabei hat die linke Wut auf den Bildungsbürger ebenso eine Rolle gespielt wie ein überzogener Aktualitätswahn und umgekehrt der technokratisch-ökonomistische Zugriff auf das, was einmal Bildung hieß.

Ökonomisierte Bildung

Ein höhnischer Nachhall dieser Denkweise ist die Äußerung der gegenwärtigen Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck, die kürzlich erklärte, dass die Schule der Wirtschaft nicht genügend zuarbeite. Dass eine solch reduzierte Auffassung von der Schule als einem ökonomischen Justifizierungsinstrument einem anspruchsvolleren Konzept von Bildung nicht gerecht wird, liegt auf der Hand. Man braucht "Bildung" nicht zu definieren, um zu wissen, was damit gemeint ist: Zugang zu den umfänglichen Archiven des Wissens und der Künste einer modernen Gesellschaft zu finden, Artikulations- und Denkfähigkeit und die dazu gehörigen Kulturtechniken, die Möglichkeit, die Tiefenstruktur der eigenen Kultur von der Antike über die Bibel bis hin zur Relativitätstheorie und zur literarischen Gegenwart decodieren zu können (das war im Fall des Gymnasiums vor zwei Generationen noch durchaus der Fall), die Förderung von Kreativität im Feld der musischen, literarischen und bildnerischen Künste.

Wer dazu nicht imstande ist, bleibt ein sekundärer Analphabet, der nicht weiß, in welcher symbolischen Welt er und sie lebt. Dass wir in den Schulen einer solchen Analphabetisierung tendenziell Vorschub leisten, vielleicht auch, weil die Kids im Rahmen des Projektunterrichts lieber im digitalen Netz spielen wollen, als ernsthaft literarische Texte zu lesen, ist das eigentliche Skandalon. Zugegeben, es ist schwieriger, ihnen solche etwa aus dem 19. Jahrhundert so näher zu bringen, dass sie dessen wesentliche geschichtliche Funktion übrigens durchaus nicht lustfeindlich ebenso durchschauen wie dessen heutige Aktualität.

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich muss die nachwachsende Generation lernen, mit digitalen Maschinerien umzugehen. Aber das bedeutet nicht, der Eigenlogik dieser Gerätschaften sklavisch zu folgen. Wie wäre es, sie hin und wieder auszuschalten, um einen längeren Text intensiv an einem Stück zu lesen, schon dem prekären Effekt entgegenzuarbeiten, mittels digitaler Abrufbereitschaft ein Wissen vorzutäuschen, das gar nicht vorhanden ist? Die digitalen Archive unserer Tage, die Wissen systematisch auslagern und gleichzeitig zur Verfügung halten, führen – lange vor dem Phänomen der digital abgekupferten Schularbeit – zu dem, was ich virtuelle Bildung nennen möchte und was an die Stelle jener Halbbildung getreten ist, die Theodor W. Adorno schon vor einem halben Jahrhundert als Halbbildung gegeißelt hat. Das langsamere Lesen verhält sich zur Hochgeschwindigkeit der digitalen Apparaturen wie das kultivierte Essen zum Schnellimbiss. Schule hat auch die Aufgabe, prekäre gesellschaftliche Entwicklungen zu korrigieren. Sie hat kultureller Pauperisierung, die politisch hochgefährlich ist, entgegenzuwirken.

Kehrt um!

Umkehr tut not. "Alle Phasen der Geschichte und Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens haben", heißt es im Einladungstext zur Enquete, "in der Literatur ein Gegenüber:" Das lässt sich aus so ausdrücken: Literatur ist ein intelligentes und plastisches Medium der Selbstverständigung, des Einzelnen wie der Gruppe. Sie war und ist potenziell ein überaus sensibles und nachhaltiges Mittel der Sozialisation, das Reflexion und Fantasie, den kritischen Umgang mit Texten und die Erweiterung der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten fördert. Gerade für junge Menschen aus bildungsfernen Schichten ist Literatur noch immer potenziell eine Einstiegsdroge in die Welt der Bedeutungen. Diese Einsicht ist nicht zuletzt im sozialdemokratischen Milieu, das Bildung, gerade literarische, lange als Mittel des sozialen Aufstiegs propagiert hat, verlorengegangen und wurde im technisch-funktionalistischen Denken pulverisiert.

Die Fähigkeit, literarische Texte intensiv zu lesen und emotional und intellektuell zu verarbeiten, oder die Fertigkeit, Violine oder Gitarre zu spielen oder sich bildnerisch zu betätigen, haben keinem Manager, keinem Computerexperten, keinem Politiker und auch keinem Techniker oder Naturwissenschafter je geschadet. Ganz im Gegenteil. Es wäre interessant, den Karrieren jener Menschen nachzugehen, in deren schulischer und universitärer Ausbildung ästhetische Bildung eine wichtige Rolle gespielt hat. (Wolfgang Müller-Funk, 14.12.2018)