Anne Dufourmantelle: Lob des Risikos (Aufbau, € 20,60)

Jetzt, wo wieder viele gute Vorsätze gemacht werden, hält Anne Dufourmantelle einen ungewöhnlichen bereit. Nicht gesünder essen, weniger rauchen oder mehr Sport setzt sie uns auf die To-do-Liste, sondern mehr Risiko. Denn wir werden berechnet, evaluiert, vorab getestet und versichert. "Das Vorsorgeprinzip ist zur Norm geworden", bedauert die französische Philosophin und Psychoanalytikerin. Und beklagt, dass wir mit dem Wort Risiko heute zu sehr Heldenmut oder Irrsinn verbinden. Entscheidend für ihre Überlegungen ist hingegen die Annahme: das Risiko "stößt in einen unbekannten Raum vor".

Ein Risiko einzugehen bedeutet in ihrem eben auf Deutsch erschienen Buch Lob des Risikos in erster Linie einen Zugewinn an Freiheit. Sie begreift den Mut zum Risiko als das Gegenteil der Neurose, die dazu verdammt, Erprobtes aus Angst vor Veränderung fortzusetzen. Das Unbekannte birgt die Möglichkeit zum Unverhofften.

Aufgebaut aus nur wenige Seiten kurzen Kapiteln zu Begriffen wie Abhängigkeit, Familie oder Einsamkeit tastet der Essay sich voran. Er entwickelt keine durchgängige Argumentation, sondern zündet viele einzelne Gedanken. Die durchsetzt Dufourmantelle mit Verweisen auf Philosophen und mit Passagen aus ihren Sitzungen mit Patienten.

Brandrede für Leidenschaft

Sind die Sicht der Philosophin und der Psychoanalytikerin vereinbar? Die 200 Seiten sind mitunter verschwurbelt. Oft argumentiert Dufourmantelle von Kindheitserfahrungen her oder überstrapaziert Metaphern. "Wir leben unter örtlicher Betäubung, unter einer Zellophanhülle und suchen verzweifelt nach einer Substanz, einer Liebe, die uns ungestraft wachrütteln könnte", heißt es dann. Das liest sich zäh.

Aber der Band ist eine packende Brandrede für Leidenschaft und Hingabe. Das Geheimnis erklärt Dufourmantelle als widerständig gegen die Macht von außen. Es ist somit unbedingt verteidigenswert abgesichts zunehmender Transparenz. Und in einer Zeit der Effizienz feiert die Autorin das Zeitverlieren in einem langen Gespräch oder einer durchwachten Nacht.

Befreiungsschläge

Auch wenn manches dabei romantisch bis kitschig klingt, findet Dufourmantelle immer wieder den Schlenker zurück zu Konkretem. "Dass sie ausbrechen kann, ist das, was uns heutzutage am meisten fehlt", schreibt sie etwa über die Revolution als Befreiungsschlag. Im französischen Original ist das Buch schon 2011 erschienen. 2017 starb Dufourmantelle, als sie zwei Kinder an einem Badestrand an der Côte d'Azur vor einem aufziehenden Sturm rettete. Aber könnte, was in Frankreich mit den Gelbwesten im Gange ist, eine echte Revolution werden?

Subversion sieht Dufourmantelle auch im Lachen. Deswegen, attestiert sie, werde Humor "im Namen aller möglichen guten Gründe konfisziert, um immer subtilere Zensurmethoden anzuwenden". Neben solchen sehr anschlussfähigen Gedanken fallen aber auch so schöne Aphorismen ab wie "Enttäuschen heißt, sich über den Traum des Anderen hinwegzusetzen, um eine winzige Zeitbombe zu zünden und zu hoffen, nach der Explosion immer noch geliebt zu werden".

Freiwillige Knechtschaft

Von der guten Abhängigkeit durch Liebe unterscheidet Dufourmantelle übrigens die Knechtschaft. Während in der Liebe die Trennung lockerer gehandhabt werde denn je ("Als wäre das gegenseitige Verlassen das Einzige, was man ungefähr beherrscht"), sei andererseits Knechtschaft heute so freiwillig wie nie zuvor. Für Versprechen von "maximaler Sicherheit" fügen wir uns etwa der öffentlichen Überwachung. Ein Handel, der durch jüngste Terroranschläge an Brisanz gewonnen hat.

Die Annehmlichkeiten des Internets hatte sie in Sachen Knechtschaft offenbar noch nicht am Radar: wir können Wegrouten im Internet berechnen, Lokale in uns unbekannten Städten anhand ihrer Ratings auswählen, fremde Menschen vor dem ersten Treffen googlen. Wir wollen keine Fehler begehen und das wird uns immer leichter gemacht. Angst macht menschlich, weiß Dufourmantelle natürlich. Aber ein lebendiges Leben braucht auch Mut zum Risiko. Ganz abseits von Klettern ohne Seil. Ein anregendes Vermächtnis. (Michael Wurmitzer, 16. 12. 2018)