Seid umschlungen, Millionen: Auf den Loveparades in Berlin kamen sich in den partyseligen 1990er-Jahren nicht nur die Vertreter des deutschen Mittelstands menschlich näher.


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Jede Frage nach dem Beginn der Neunziger-Jahre führt schnurgerade in die Achtziger – als diese schon am Verröcheln waren. Wegen eines Kommunikationsfehlers in der DDR-Führungsriege fiel am 9. November 1989 die Berliner Mauer. Mit der darauffolgenden Beendigung des Kalten Krieges schien die Menschheit endlich Muße zu haben, sich wirklich wichtigen Dingen zuzuwenden: der Raveparty, dem "Nz, nz" auf den betonten Taktteilen der elektrisch verstärkten Musik. Viele entdeckten Yoga für sich. Andere schluckten zu Techno lustige Pillen, die garantiert keinem Leiden abhalfen.

Etwas vorschnell wurde das "Ende der Geschichte" ausgerufen. Politisch wich das Blockdenken den Vorboten der Globalisierung. Die Weltjugend litt an Weltschmerz. Vor allem aber schwor sie auf übergroße Logos, auf Viva-Moderatorinnen, auf die Marken Fila und Champion. Die Welt wurde erstmals von oben herab, von Hochplateauturnschuhen aus, wahrgenommen. Man hüllte den Slacker-Leib in Übergrößenpullover. Vor allem aber pfiff man auf alles, was einer ideologischen Festlegung hätte gleichen können. Als der ostdeutsche Mob Flüchtlingsheime in Brand steckte, sah man unter den Marodeuren auch solche mit Che Guevara auf der Brust.

Akute Lücke im Wohlbefinden

Es "ging" beinahe alles. Dafür war mit dem Wegfall der DDR-Folklore im Alltag vieler Menschen eine akute Lücke im eigenen Wohlbefinden entstanden. Umgekehrt entdeckten die Westkinder sukzessive, dass auch eine gediegene Schul- und/oder Uniausbildung keineswegs zwingend ein gelungener Beitrag zur Zukunftssicherung war.

Die aus solchen Verunsicherungen resultierende Melancholie wurde von der Kulturindustrie gekapert. Auch ohne Allgegenwart des Netzes weckten die Medien und deren Zuarbeiter hedonistische Bedürfnisse, die sie obendrein versprachen, im Handumdrehen zu befriedigen. Man klickte (noch) keine E-Mails an. Aber man durfte Heike Makatsch im Musiksender anrufen und in Echtzeit mit ihr "quatschen".

Vor allem die Deutschen mühen sich ab mit der möglichst allseitigen Würdigung eines Jahrzehnts, das als hedonistisch verschrien ist. Gerade Berlin, die ehemals geteilte Stadt, blickt mit nicht erlahmendem Interesse zurück auf seine Loveparades. Was anno 1989 als Gute-Laune-Zirkus mit Böllerbeats begann, zog beim ersten Mal gerade einmal 150 Tanzwütige an. Die aktuelle Ausstellung Nineties Berlin in der Alten Münze in Mitte ist denn auch vornehmlich als quietschbunter Erlebnispark konzipiert. Geradezu schmerzlich spürbar wird – trotz Mauersimulation und Technostampfen – das Fehlen eines tragfähigen Narrativs.

Ultimative Lockerung

Als Massenspektakel mit Prollflair zog die große Sause der Loveparade etwa 1999 rund eineinhalb Millionen Teilnehmer an. Ein notorisch als hüftsteif verschrienes Land spendierte sich regelmäßig die ultimative Lockerung.

Wer an ein Jahrzehnt voller Genuss pur denkt, übersieht das Gehetzte dieser Dekade. Ab nun wurde kulturell in Begriffen des Recyclings gedacht. Erstmals verwalteten Heranwachsende ihr Leben multioptional. Man spendierte sich im täglichen Wechsel jeweils einen neuen Look. Der Markt inhalierte ohnehin begierig alles, was nach Subkultur schmeckte oder roch.

Der Heroinlook der Models auf den Hochglanzseiten der Modemagazine signalisierte ein Phlegma, das unüberwindlich schien. Indem man in prädigitaler Zeit bereits das Prinzip der Interaktivität hochhielt, stürzte man Slacker und Angehörige der Generation X notorisch in die Überforderung. So beschreibt auch Buchautor Joachim Hentschel (Zu geil für diese Welt. Die 90er – Euphorie und Drama eines Jahrzehnts) das Dilemma der Dekade. Indem alles möglich schien, büßten die Optionen vielfach an Verbindlichkeit ein. Dafür dauerten die 1990er lange. Ihr gefühltes Ende datiert man auf den 11. September 2001. (Ronald Pohl, 20.12.2018)