Die Geschenke bringt das Christkind. In der Phase des magischen Denkens ist noch alles möglich.

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Auch August Ruhs freut sich, in Spielwarenhandlungen zu gehen und Geschenke für die Enkel auszusuchen – in der Hoffnung, dass er dann mit den Kindern mitspielen darf.

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STANDARD: Ein häufiges Bild zu Weihnachten: Erwachsene spielen mit den Geschenken der Kinder, bauen an Burgen, Autos oder anderen Dingen. Regredieren Erwachsene unterm Christbaum wieder zu Kindern?

August Ruhs: Eine Regression ist ein Zurückfallen in ein früheres Entwicklungsstadium, und jedes Ritual ist eine Art von Zurückgehen, also auch Weihnachten. Dass man sich so intensiv mit der Geburt eines Kindes – in diesem Fall des Jesuskindes – beschäftigt, ist an sich schon eine leichte Regression mit mehr oder weniger bewusster Identifizierung. Der 24. und 25. Dezember sind aber noch aus einem anderen Grund besonders: Sie enthalten die Ambivalenz von Geburt und Tod.

STANDARD: Inwiefern?

Ruhs: Durch die Nähe zum Jahreswechsel, der auch immer Ende und Anfang bedeutet, sind Tod und Geburt Gedankenassoziationen. Das spiegelt sich unter anderem im Weihnachtsritual wider. Wir haben einerseits dieses kleine Kind und andererseits sehr alte Männer wie Knecht Ruprecht und Santa Claus.

STANDARD: Wie passiert so ein Zurückfallen in frühkindliche Muster?

Ruhs: Voraussetzung ist eine Frustration, die durch diese Ambivalenz, aber auch durch gesellschaftliche Zwänge, denen man sich nur schwer entziehen kann, hervorgerufen wird. Weihnachten zählt ja nicht wirklich zu den fröhlichen Festen. Obwohl man sich immer "Frohe Weihnachten" wünscht, wird an keinem Tag im Jahr mehr gestritten. Auch Silvester will immer sorglos gefeiert werden, ist aber häufig ein wenig gelungenes Fest. Diese gemischten Gefühle erzeugen oft ein Unbehagen, führen dann dazu, dass man sich die frühe Kindheit zurückwünscht.

STANDARD: In eine Zeit also, in der alles scheinbar noch in Ordnung war?

Ruhs: Der Mensch neigt dazu, die Kindheit zu glorifizieren, obwohl diese selten durchgängig glücklich war. Er will zurück in diese Zeit, in der zum Beispiel das Wünschen noch geholfen hat. Das ist nur in der kindlichen, magischen Vorstellung möglich.

STANDARD: Ist das Ende des magischen Denkens die Vertreibung aus dem Paradies?

Ruhs: Das ist eine mögliche Assoziation. Das kindliche Paradies stellt eine frühe Entwicklungsphase dar, in der man nichts geben musste, sondern immer nur bekam. Alle Menschen neigen dazu, sich diesen Zustand immer wieder herbeizuwünschen.

STANDARD: Fördert Weihnachten die psychische Gesundheit?

Ruhs: Es wäre gesund, wenn es so begangen wird, wie es intendiert ist: ein Fest, zu dem die Familie zusammenkommt und gemeinsam feiert. Die Frage ist, ob etwaige Zwänge, Erwartungshaltungen und Enttäuschungen das Fest zu einem spannungsgeladenen Abend machen, der eskalieren kann. Auch hier haben wir wieder diese Ambivalenz.

STANDARD: Warum streiten so viele an den Feiertagen?

Ruhs: Jeder strebt nach dieser Idylle, in der sich alle gut vertragen. Doch ein Begehren lässt sich nicht durch Befehl erzeugen. Gegenseitiges Wohlwollen kann nur aus einem selbstgewollten Impuls heraus entstehen. Was ich aus der Praxis weiß: Die Weihnachtszeit setzt viele Menschen unter Druck. Es ist jedes Jahr wieder Stress, alles davor zu organisieren und zu erledigen. Die notwendige Inventur kündigt sich an, die bürokratischen Anforderungen melden sich, ja die gesamte unerledigte Arbeit soll noch ins alte Jahr gepackt werden. Danach warten noch die guten Vorsätze, die man sich für den Jahreswechsel vornimmt. Was viele vergessen: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.

STANDARD: Wie feiert der Psychoanalytiker August Ruhs Weihnachten?

Ruhs: Was das Regressive betrifft: Auch ich freue mich, in Spielwarenhandlungen zu gehen und Geschenke für die Enkel auszusuchen – in der Hoffnung, dass ich dann mit den Kindern mitspielen darf. Schon Friedrich Nietzsche sagte: "Im echten Mann ist ein Kind versteckt, das will spielen." (Günther Brandstetter, 24.12.2018)