Künstler als Handwerker der menschlichen Sehnsucht: Mimi (Kiandra Howarth) und Rudolfo (Matteo Desole) ist wenig Zeit vergönnt. Im Frühling werden sie sich trennen müssen.


Foto: Karlheinz Fessl

Früher lagen die Herrschaftsräume in den unteren Stockwerken der Stadthäuser. Oben in den Mansarden zwischen den Kaminen wohnten diejenigen, die sich nichts Besseres leisten konnten. Inzwischen sind sie auf dem Boden der CO2-Realität angekommen, und die Dachgärten der Wohlhabenden sind obenauf.

Wer daraus schließt, dass alles anders geworden ist, irrt. Jemand, der mit noch drei Zähnen im Mund, aber keiner Münze in der Tasche so am Ende war wie Vincent van Gogh 1890, hat immer noch seine liebe Not. Kein Steinzeitmensch würde verstehen, warum wir unsere Kulturschaffenden so gern verhungern lassen, es sind doch die Handwerker der menschlichen Sehnsucht, aber es ist einmal so: Die Wertschätzung der Kunst beginnt in der neuzeitlichen Gesellschaft erst dort, wo schätzbare Werte vorhanden sind.

Giacomo Puccini wusste, was Armut ist, und seine Erfolgsoper La Bohème ist ein Hinweis darauf, dass die Gefühlstiefe und die Lebenslust, die Poesie und die Liebe nicht im Establishment daheim sind. Dass der erste Akt zur Weihnachtszeit spielt, verschärft die Klage. Dichter Rodolfo muss, schwankend zwischen Galgenhumor und Sarkasmus, sein Drama verbrennen, um nicht zu erfrieren. Aber es ist zu spät. Die nebenan wohnende Blumenstickerin Mimi hat sich in der Eiseskälte das Lungenleiden schon geholt, an dem sie sterben wird. Was für eine nette Liebesgeschichte, aus dem beheizten Parkett betrachtet.

Bescheiden und werkdienlich

Vielleicht sollte der Zuschauerraum unbeheizt bleiben. Dann käme noch klarer heraus, warum dieses Werk so sehr die Lieblingsoper des Theatermachers Florian Scholz ist, dass er – im sechsten Jahr als Intendant – zum ersten Mal persönlich die Inszenierung übernommen hat. Bis zum Schluss, an dem Rodolfo ob des Verlusts der Geliebten die Feuerleiter hinaufsteigt und sich an den Schornstein krallt, entsagt diese Inszenierung jeder Dachstubenromantik.

Sie ist bescheiden, werkdienlich und voll ingeniöser Details. Zum Beschluss von Rodolfo und Mimi, sich im Frühling zu trennen, setzt Schneefall ein. An die Leinwand, auf die Marcello eine Landschaft malen will, presst die geliebte Musetta ihren Körper und macht so ein Aktbild daraus.

Auch musikalisch ist die Produktion besonders gelungen. Dass Lorenzo Viotti für das italienische Fach alle Einfühlung mitbringt, war zu erwarten. Aber außerordentlich ist das von ihm zusammengestellte junge Ensemble, allesamt erst am Anfang ihrer Karriere. Die Stimmen von Kiandra Howarths Mimi und Matteo Desoles Rodolfo erheben sich strahlend über die Armut. Andrzej Filonczyks Maler Marcello liefert sich mit der Musetta Bryony Dwyers prächtige Vokaldispute. Riccardo Fassis Philosoph Colline verabschiedet sich herzergreifend vom Mantel, der ins Versatzamt muss.

Gäbe es ein Who's who der Stars von morgen, die ganze Besetzung könnte dort aufscheinen. Man muss aber auch sagen: Die Musik ist so schön, dass Puccini selbst schuld ist, wenn nachher wieder alle vergessen, dass das etwas kostet. (Michael Cerha, 21.12.2018)