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Literatur aus Trumpistan: Der US-Buchmarkt ist ein Eldorado für Verschwörungstheoretiker aller Art, ihre Verkaufszahlen sind erschütternd.

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Es ist ein Gipfeltreffen der freien Rede. Die deutschen Journalisten haben das Sarrazin-Buch in gespenstischer Einhelligkeit verstampft. Hier stimmt was nicht", meinte der Schweizer "Weltwoche"-Chefredakteur Roger Köppel vor der Präsentation von Thilo Sarrazins "Feindliche Übernahme" in der Wiener Stadthalle vor ein paar Wochen.

Was stimmt eigentlich nicht, wenn ein wissenschaftlich sehr fragwürdiges Buch über ein sensibles Thema – nämlich Einwanderung, Muslime und Islam – von der Presse verrissen wird? Eigentlich stimmt alles. Aber für den Verschwörungstheoretiker beginnt erst hier die Arbeit. Er unterstellt etwa der Presse, böswillig und vorsätzlich einem Autor schaden oder ihn ruinieren zu wollen.

Realitätsverweigerung ...

Voraussetzung für gelingendes Verschwörungsdenken ist die Realitätsverweigerung. Beispiele dafür hat etwa die Gewerkschafterin und Mittelschullehrerin Susanne Wiesinger in ihrem Buch "Kulturkampf im Klassenzimmer" gesammelt. Es gibt Probleme mit radikalisierten muslimischen Jugendlichen in Schulen? Die Attentäter des Anschlags auf die Redaktion der Zeitschrift "Charlie Hebdo" werden von manchen im Klassenzimmer wie Helden gefeiert? Der Tipp von Referentinnen und Referenten, Vorgesetzten und Gewerkschaftern im Rahmen eines Deradikalisierungsprogramms laut Wiesinger: "Ändert euch und akzeptiert die Welt, in der eure Schüler leben, wie sie ist. Dann wird Integration gelingen." Am besten, die Realitätsverweigerung wird mit Unterstellungen und Moralisieren kombiniert.

... und Naivität

Die Botschaft an die Lehrkraft: Arbeite an dir selbst, im Grunde ist alles in Ordnung – mit muslimischen Schülerinnen und Schülern oder "dem" Islam. So jedenfalls der Erfahrungsbericht der Sozialdemokratin Wiesinger. Sie nennt diese Haltung mit Recht realitätsfremd und naiv.

Die italienische Staatsanwaltschaft leitet ein Ermittlungsverfahren gegen Italiens rechtspopulistischen Innenminister und Chef der Lega Nord, Matteo Salvini, ein. Wegen möglicher "Freiheitsberaubung, illegaler Festnahme und Machtmissbrauch" im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsboot "Diciotti". Die wollen uns nur beleidigen, kontert Salvini und wird von Silvio Berlusconi sekundiert: "Wieder einmal interveniert die Justiz in einer rein politischen Frage, in der sie sich nie und nimmer einmischen sollte." Wir sind die Opfer, die anderen die Täter. Die Frage nach dem Grund des Ermittlungsverfahrens ist unerheblich.

Sollte nicht in jedem funktionierenden Rechtsstaat gegen Menschen ermittelt werden, die möglicherweise Gesetze verletzt haben? Unerheblich. Es geht nicht um den Sachverhalt, nicht um rechtsstaatliche Prinzipien, sondern darum, mit Polemik bessere Umfragewerte zu erhalten.

Verschwörungstheorien, Realitätsverweigerung, Moralisieren und Polemisieren können in allen politischen, religiösen und ideologischen Lagern vorkommen. Nur sehen wir meistens eher den Splitter im Auge des Gegners als den Balken vor den eigenen Augen. Das ist gut für das eigene Wir-Gefühl, aber auf der Strecke bleibt die kritische Suche nach der Wahrheit. Wichtige Unterscheidungen werden nicht mehr getroffen, wie Paul Reinbacher unlängst überzeugend argumentiert hat ("Lob der Unterscheidung", erschienen im STANDARD). Differenziertes Denken wäre angebracht, ist aber anstrengend.

Schablonendenken ...

Bequemer ist es, in Schablonen zu denken. Die Rechten sind gegen den Islam. Also sind wir Linken für den Islam, egal, wie intolerant viele islamische Strömungen sein können. Samuel Schirmbeck hat dieses Denken unlängst in seinem Buch "Gefährliche Toleranz. Der fatale Umgang der Linken mit dem Islam" angeprangert (siehe Rezension im STANDARD). Oder: Die Linken sind für Multikulti und unbegrenzte Einwanderung. Also sind wir Rechten für einen Nationalstaat, eine Leitkultur, für "Grenzen dicht" und notfalls für eine Zerstörung des Rechtsstaats. Damit retten wir das Abendland.

Der Verriss von Sarrazins neuem Buch in den Zeitungen ist sehr gut nachvollziehbar. Viele seiner Thesen sind fragwürdig, wie schon mehrfach sachlich nachgewiesen wurde. So nennt der Islamwissenschafter Ulrich von Schwerin den Versuch Sarrazins, allein durch eine Koranlektüre und ohne theologische oder historische Vorbildung das Wesen des Islam fixieren zu wollen, eine "absurde Anmaßung".

Gespenstisch ist Thilo Sarrazins Haltung, der überzeugt zu sein scheint, dass seine Interpretationen unfehlbar sind. Gespenstisch ist auch die Tatsache, dass ein exzellenter Islamwissenschafter wie Rüdiger Lohlker auf Amazon mit der Arbeit "Islam. Eine Ideengeschichte null Punkte" und keine einzige Rezension hat, Sarrazin hingegen 4,5 Punkte (von fünf möglichen) und über 400 meist enthusiastische Besprechungen.

... und Gespenstersicht

So wird eine sachliche Auseinandersetzung unterminiert. Wir fragen nicht mehr nach der wissenschaftlichen Qualität einer Arbeit oder dem Wahrheitsgehalt von Aussagen, sondern unterstellen, dass "etwas nicht stimmt". Das muss in der Tat bedenklich stimmen. (Georg Cavallar, 23.12.2018)