Pflichtschullehrergewerkschaftschef Paul Kimberger fordert mehr Ressourcen für die Volksschulen – im Interesse aller Kinder.

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Wenn die Volksschule jedem Kind bestmöglich gerecht werden soll, dann braucht es idealerweise in jeder Klasse eine pädagogische Doppelbesetzung.

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Kind A kann sich die Schuhbänder noch nicht selbst zubinden. Kind B schreibt bereits den eigenen Namen in Druckbuchstaben. Kind C ist weder mit Grußformeln noch "Bitte" oder "Danke" vertraut. Kind D liest schon einfache Texte. Und Kind E ist nicht in der Lage, sich in eine Gruppe einzufügen. Sie alle sitzen jedoch gemeinsam in einer ersten Klasse Volksschule – und sollen miteinander Lesen, Schreiben, Rechnen und noch mehr lernen. Und wie? Na durch "individualisierten Unterricht", lautet die politisch gern deponierte Devise und Anforderung an die Lehrerinnen und Lehrer. Bloß: "Das ist sehr oft eine 'mission impossible'", sagt der oberste Pflichtschullehrervertreter Paul Kimberger im STANDARD-Gespräch.

"Prinzen und Prinzessinnen"

Der Vorsitzende der Pflichtschullehrergewerkschaft, der der Fraktion Christlicher Gewerkschafter (FCG) angehört, beschreibt anhand des eingangs geschilderten Szenarios die schulische Realität, mit der es die rund 40.000 Volksschullehrerinnen und -lehrer in Österreich tagtäglich zu tun haben: "Sie haben bis zu 25 Sechsjährige mit Entwicklungsunterschieden von bis zu drei Jahren und mehr in einer Klasse. In diesem Spektrum spielt sich alles ab. Da sitzen von Helikoptereltern überbehütete, ,überförderte' und sozial völlig unterentwickelte ,Prinzen' und ,Prinzessinnen' neben Kindern, mit denen sich von Geburt an niemand beschäftigt hat, die bloß mit Smartphones und Fernsehen unterhalten werden."

Verlorene Lebenschancen

Diese Gemengelage führe dazu, erklärt Kimberger, "dass in Wirklichkeit bei vielen Kindern bis zum sechsten Lebensjahr schon derartig viele Lebenschancen verlorengehen, weil sie nicht oder nicht richtig gefördert werden, dass wir dort dringend etwas tun müssen. Sonst können auch die besten pädagogischen Konzepte nur mehr wenig ausrichten. Und das betrifft Kinder aus sozial und ökonomisch schwierigen Verhältnissen oder mit besonderen Bedürfnissen oder mit einem sogenannten Migrationshintergrund genauso wie Kinder mit Hochbegabungen."

Der Gewerkschaftschef, einst selbst jahrelang Lehrer an Linzer Brennpunktschulen, leitet daraus eine pädagogisch begründete Forderung an die Bildungspolitik ab: "Wir brauchen in allen Volksschulklassen eine Doppelbesetzung, zwei Lehrerinnen bzw. Lehrer für jede Klasse. Zumindest in der Grundstufe eins, also in der ersten und zweiten Klasse, sollen jeweils zwei Pädagoginnen bzw. Pädagogen anwesend sein."

Nur dann könnten sie auch den berechtigten Anspruch oder die selbstverständliche Erwartung der Eltern erfüllen, nämlich dass ihr Kind nicht nur die grundlegenden Kulturtechniken beigebracht bekommt: "Jetzt müssen die Lehrerinnen und Lehrer so viel nachholen, was früher auch die Eltern geleistet haben, dass diese Zeit natürlich von der eigentlichen Unterrichtszeit abgezogen werden muss", erklärt Kimberger, der auch die Arge Lehrer in der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD) leitet.

Ihm sei bewusst, dass das von ihm ausgerufene "Ziel einer Doppelbesetzung in der Volksschule etwas ist, das man nicht gern hört, aber: Je früher wir investieren, desto weniger müssen wir später reparieren. Das wäre eine sehr kluge und zukunftsorientierte Maßnahme, die sich mittelfristig x-fach rechnen würde."

Christlich-soziales Weltbild

Der Landesvorsitzende des Christlichen Lehrervereins (CLV) für Oberösterreich argumentiert auch "vor dem Hintergrund eines christlich-sozialen Weltbildes" und sagt: "Von zwei Pädagoginnen und Pädagogen in der Klasse würden ja alle Kinder profitieren, weil dann wirklich individuell auf die Bedürfnisse eines jeden Kindes eingegangen werden könnte. Auch von jenen, die es im Leben nicht so gut erwischt haben und die ganz besondere Unterstützung brauchen, aber auch von jenen, die zum Beispiel besonders begabt sind."

Vorbilder für die von Kimberger geforderte personelle Aufstockung in den ersten Schulklassen finden sich in Skandinavien, "in abgewandelter Form", wie er sagt. So habe in Finnland jeder Lehrer, jede Lehrerin eine 24-Stunden-Lehrverpflichtung, unterrichte aber nur 18 Stunden: "Sechs Stunden steht er oder sie für solche Spezialeinsätze in Klassen zur Verfügung." Teilweise gebe es dort sogar Dreifachbesetzung.

Sicherheitseinrichtung Schule

Ganz allgemein kritisiert Paul Kimberger, "dass nicht nur die Politik in den vergangenen zehn, 15 Jahren immer glauben machen wollte, dass sich mit Pädagogik und Bildung jedes Problem in unserer Gesellschaft lösen lässt, aber: Schule kann nicht alles kompensieren, was Gesellschafts-, Familien-, Sozial- oder Sicherheitspolitik versäumen. Die Schule ist ohnehin eine der wichtigsten Sicherheitseinrichtungen in diesem Land. Aber Chancengleichheit herstellen kann sie nicht allein, sie kann nur bis zu einem gewissen Grad kompensieren. Wir brauchen jedenfalls mehr Unterstützung und mehr Ressourcen, wenn wir uns wirklich bestmöglich um alle Kinder kümmern sollen." (Lisa Nimmervoll, 26.12.2018)