Immer weniger Menschen in Westeuropa sind praktizierende Christen.

Foto: APA/dpa/Nicolas Armer

Viel ist geschrieben worden über den Niedergang der Sozialdemokratie, auch auf den Seiten dieses Blogs. Und tatsächlich befinden sich Westeuropas Sozialdemokraten in puncto parlamentarische Repräsentation auf einem historischen Tiefpunkt.

Viel schlimmer als der Sozialdemokratie ist es in den letzten Jahrzehnten aber der Christdemokratie ergangen. Die Grafik unten zeigt, wie stark sich das christdemokratische Lager in Westeuropa seit 1960 entwickelt hat. Dargestellt wird pro Jahr der Median des Wählerstimmenanteils aus 14 Ländern. Ausgewählt wurden jene politischen Systeme, in denen es im Beobachtungszeitraum relevante christdemokratische Parteien gab (siehe Beschreibung unterhalb der Grafik für Details).

Im Median über diese 14 Länder erhielten christdemokratische Parteien Mitte der Sechziger noch rund ein Drittel der Stimmen. Heute sind es hingegen weniger als zehn Prozent. Das christdemokratische Lager in einem typischen westeuropäischen Land hat sich in diesem Zeitraum also auf weniger als ein Drittel seiner Größe reduziert. Im Vergleich nehmen sich die Stimmenverluste sozialdemokratischer Parteien fast lächerlich gering aus.

Natürlich ist diese Schrumpfung nicht überall gleich dramatisch vonstattengegangen. Die italienische Democrazia Cristiana kollabierte Anfang der 1990er unter dem Gewicht ihrer eigenen Korruption. In Belgien, der Schweiz und den Niederlanden fand hingegen ein Prozess kontinuierlicher Erosion statt. Auch Österreich und Deutschland folgen, wenngleich weniger stark ausgeprägt, diesem Muster. In Ländern mit marginalen christdemokratischen Kräften (etwa in Skandinavien) gibt es hingegen kaum erkennbare Trends über die Zeit.

Ein wesentlicher Erklärungsfaktor für diese Entwicklung ist die Säkularisierung. Immer weniger Menschen in Westeuropa sind praktizierende Christen. In Österreich etwa sind praktizierende Katholiken noch immer ähnlich stark an die ÖVP gebunden wie vor 25 Jahren, es gibt nur einfach deutlich weniger davon.

Warum der Niedergang der Christdemokratie medial (und auch in der wissenschaftlichen Literatur) weit seltener thematisiert wird als jener der Sozialdemokratie? Womöglich ist er aufgrund der Existenz starker säkular-konservativer Parteien weniger sichtbar – oft werden diese beiden Parteienfamilien in Europa zu einem Mitte-rechts-Lager zusammengefasst. Außerdem ist der Niedergang der Christdemokratie über die Jahrzehnte hinweg ähnlich schnell verlaufen, während sich jener der Sozialdemokratie in den letzten zehn Jahren massiv beschleunigt hat.

Gerade der österreichische Fall zeigt aber auch, dass christdemokratische Parteien nicht auf ewig zum Schrumpfen verdammt sind. Allerdings haben Wahlerfolge in einer zunehmend säkularisierten Wählerschaft den Preis, klassische christdemokratische Positionen etwa in der Migrations- und Europapolitik nach rechts hin aufweichen zu müssen. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 27.12.2018)